26. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2023

Tödliche Fälschung: „Die Protokolle der Weisen von Zion“

von Detlef Jena

Umberto Eco persiflierte 2010 in seinem Roman „Der Friedhof in Prag“ mit skurrilem Spagat zwischen Enzyklopädie und Karl May eine der verhängnisvollsten Verschwörungstheorien der Geschichte: „Die Protokolle der Weisen von Zion“, die den Juden unisono die Schuld an den Verbrechen dieser Welt zumessen sollten. Eco hat mit seiner verschrobenen Story allerdings kein aufklärendes Licht in die während des 19. Jahrhunderts erfundene mittelalterliche Finsternis tragen.

Die Vorwürfe der Protokolle gegen das angebliche Streben der Juden nach der Weltherrschaft waren konkret: massenhafter Aufkauf von Staatsanleihen durch Privatbanken, Provozierung von Finanz- und Wirtschaftskrisen zur Ausschaltung missliebiger Konkurrenten, Pressemanipulationen zur Inszenierung von Konkursen, Radikalisierung verarmter Volksschichten, Einsatz moderner technischer Erfindungen zum Terror gegen Staaten und Regierungen oder gar die Entfesselung von Kriegen und anderes mehr.

Das alles war im 19. Jahrhundert alltägliche Wirklichkeit des Kapitalismus der freien Märkte und bedurfte keiner explizit jüdischen Urheber. Die Protokolle gingen auf fiktive Texte zurück, z.B. auf die 1864 von Maurice Joly anonym veröffentlichten satirischen „Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu“ oder auf Kolportageromane wie „Die Geheimnisse des Volkes“ bzw. „Der ewige Jude“. Der deutsche Autor Herrmann Goedsche hat durch den Roman „Biarritz“ maßgeblich an dieser Verschwörungstheorie mitgewirkt.

Herrmann Ottomar Friedrich Goedsche wurde 1815 im schlesischen Trachenberg geboren. Er arbeitete als Postsekretär, u.a. im thüringischen Suhl. 1838 kam er nach Berlin. Goedsche besaß literarische Begabungen und nutzte sie als Agent Provocateur der preußischen Geheimpolizei. Er nannte sich auch Sir John Retcliffe und Theodor Armin. Als in Deutschland Liberale noch Fackelträger im Ringen um Freiheit und Nation waren, durchschnüffelte Goedsche deren Post, fälschte Briefe und legte sie als Beweismittel für die „Verbrechen“ der Demokraten vor. Die preußische Polizei ließ ihn auch an „große Fische“ heran, die sich im Umkreis des Hofes bewegten. Dazu gehörte Benedikt (Franz Leo) Waldeck, während der Revolution 1848/49 einer der führenden deutschen Linksliberalen. Waldeck musste sich 1849 nach einem Gerichtsprozess aus der aktiven Politik zurückziehen, stand in den 1860er Jahren aber wieder im Führungszirkel der liberalen Fortschrittspartei und profilierte sich zu einem der schärfsten Gegner Otto von Bismarcks.

Goedsche hatte 1849 die Dokumente gegen Waldeck gefälscht, war aber ertappt worden und flog bei der Post raus.

Doch er kam sofort in die Redaktion der gerade gegründeten erzkonservativen Neuen Preußischen Zeitung (die sogenannte Kreuz-Zeitung), die sich erbitterte politische Duelle mit dem liberal-konservativen Preußischen Wochenblatt zur Besprechung politischer Tagesfragen lieferte. Bei der Kreuz-Zeitung bekam Goedsche Kontakte zu Bismarck. Er pflegte in seinen politischen Ansichten und in Romanen jene apologetische Hingabe an den preußischen Hof, die er im geheimen Fälscherdienst erworben hatte.

Die in den dreißiger Jahren entstandenen Romane (u.a. „Der letzte Wärringer, Burg Frankenstein“, „Nächte. Romantische Skizzen aus dem Leben und der Zeit“) atmeten den Geist historischer Abenteuergeschichten mit auffallend propreußisch-konservativer Tendenz und einem antienglischen Grundzug, gegen das „perfide Albion“. Als Berichterstatter in der Türkei während des Krimkriegs bezog Goedsche die russische und orientalische Welt in sein literarisches Schaffen mit ein (u.a. „Sewastopol. Historisch-politischer Roman aus der Gegenwart“, vier Bände)

Die Romane und auch Goedsche selbst wären sicherlich längst von der Geschichte verschluckt worden, wenn nicht „Sir John Retcliffe“ in den Jahren 1868/76 in acht Bänden den Roman „Biarriz“ veröffentlicht hätte, wenn darin nicht das Kapitel „Auf dem Judenkirchhof in Prag“ gestanden hätte und wenn dieser Text nicht als Grundlage des späteren antisemitischen Pamphlets „Die Protokolle der Weisen von Zion“ gedient hätte.

Goedsche/Retcliffe erzählt, dass sich die Vertreter der zwölf jüdischen Stämme Jahr für Jahr auf dem jüdischen Friedhof in Prag treffen. Sie resümieren die Ergebnisse im Kampf um die jüdische Weltherrschaft und analysieren die Resultate nach exakten Kriterien: Erwerb von Grundbesitz; Umwandlung von Handwerkern in Industriearbeiter, Durchdringung staatlicher Institutionen, beherrschender Einfluss auf die Presse u.a.m. Nach Beurteilung der aktuellen Lage fasst der Wortführer Levit den Stand zusammen und wünscht, die Juden mögen in 100 Jahren die Könige der Welt sein.

Goedsche hat diese fiktiven Szene nicht selbst erfunden, sondern hat sich Alexandre Dumas d.Ä. Roman „Joseph Balsamo“ zum Vorbild genommen. Im „Balsamo“ plant Alessandro Cagliostro mit seinen Komplizen zwar keine Weltverschwörung der Juden, sondern die intrigante „Halsbandaffäre“ gegen die französische Königin.

Goedsche arbeitete bis 1874 bei der Kreuz-Zeitung. Es ist unwahrscheinlich, dass er nicht begriff, welchen politischen Sprengsatz er gezündet hatte. Vielleicht sogar als Auftrag. Das Feuer brach sofort aus. 1873 erschien das Pamphlet: „Die Juden. Herrscher der Welt“ und gab Goedsches fiktive Beschreibung als Tatsachenbericht wieder. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ traten ihren verhängnisvollen Lauf durch die Weltgeschichte an. Goedsche zog sich 1874 für den Rest seines Lebens nach Warmbrunn (das heutige Cieplice) zurück und leitete dort, sorgsam von Preußens Soldaten beschützt, das Militärkurhaus. Doch die Geschichte ging weiter:

Russische Geheimpolizisten formulierten mutmaßlich Goedsches Text 1876 zum authentischen Tatsachenbericht um. Begierig druckte man die Fälschung als „Die Rede des Rabbiners“ in mehreren europäischen Ländern nach. Die Autoren sollen ihre Arbeit unter der Leitung des Pariser Residenten der russischen Geheimpolizei Pjotr Iwanowitsch Ratschkowski geleistet haben.

Der Text rief Interessenten unterschiedlichster Couleur auf den Plan. Es begann das Kapitel Zwei der Verschwörung: Die weltpolitische Instrumentalisierung einer böswilligen Legende zur Verschleierung imperialer und machtpolitischer Absichten der Großmächte.

Die Geschichte der „Protokolle“ besitzt über Systeme hinweg klebrigen Bestand. Zunächst kleisterte sie sich bis in den Bürgerkrieg der Jahre 1918/1921 hinein an Russland fest. Baltische Emigranten wie Alfred Rosenberg brachten den Text in das Deutschland der Weimarer Republik. Bei deutsch-völkischen Organisationen fiel er auf fruchtbaren Boden. Politische Morde wie der an Außenminister Walter Rathenau wurden mit den Protokollen verbunden.

Hitlers Nationalsozialisten erhoben die Protokolle zur Rechtfertigung für den größten Völkermord in der Geschichte, während in England in den 1920er Jahren öffentlich auf den gefälschten Inhalt aufmerksam gemacht wurde. Der amerikanische Autokönig Henry Ford störte sich nicht an den britischen Enthüllungen. Er förderte Hitler. Mit dem in 16 Sprachen übersetzten Buch „Der internationale Jude“ sorgte er dafür, dass sich jedermann auf dem Globus mit den Protokollen beschäftigen und im Schrecken des Zweiten Weltkrieges zielgerichtet nach den „Schuldigen“ fahnden durfte. In der Schweiz zwischen 1935 und 1937 angestrengte rechtsstaatliche Schritte, die Verbreitung der Fälschung zu unterbinden, endeten ergebnislos.

Stattdessen sorgten im Jahre 1938 die ägyptischen Muslimbrüder für eine arabische Übersetzung. Gemeinsam mit Hitlers „Mein Kampf“ konnten die Protokolle in die islamische Welt eindringen und zum Kampfruf für die Befreiung Palästinas avancieren. Arabien ist bis in die Gegenwart der nachhaltigste Verbreitungsraum für die Protokolle. Die gedruckten Auflagen steigen unübersehbar. Auseinandersetzungen mit der Fälschung verschwinden im Rausch des Antisemitismus. Wie mag sich Henry Kissinger wohl gefühlt haben, als ihm König Faisal von Saudi-Arabien ein hübsch gebundenes Exemplar der „Protokolle“ als Gastgeschenk überreicht hat? Überrascht war er sicherlich nicht, denn die Protokolle, das weiß ein amerikanischer Minister, sind auch im 21. Jahrhundert ein oft zitiertes Buch, geeignet, die Wut und die Verzweiflung der Menschen über die globale Apokalypse der freien Märkte zu kanalisieren. Sogar katholische Piusbrüder halten die Protokolle für „gottgesandt“. Das alles wusste Eco natürlich.