26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Sie war mehr als nur eine Starfotografin – Lee Miller

von Klaus Hammer

Eine Surrealistin, die ein Kristallisationspunkt ihrer Zeit war“, nannte Andy Grundberg in der New York Times die 1977 gestorbene amerikanische Fotografin Lee Miller, eine jener großen Frauen, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt haben. Sie war zugleich Fotomodell, Assistentin und Geliebte des Foto- und Objektkünstlers Man Ray, entwickelte mit ihm die Solarisation, die eine der Standardtechniken surrealistischer Fotografie wurde, und avancierte zur Starfotografin der englischen Zeitschrift Vogue. In New York eröffnete sie ein eigenes Fotostudio, heiratete aber bald darauf einen reichen ägyptischen Geschäftsmann, zog mit ihm nach Kairo und erkundete die ägyptische Wüste.

Im Zweiten Weltkrieg wurde sie Frontberichterstatterin der US-Army, drang bis in das von Hitlerdeutschland besetzte Südosteuropa vor und schloss ihre zweite Ehe mit dem Surrealisten Roland Penrose. Ihr Haus, die Farley Farm im südenglischen Sussex, wurde zum Treffpunkt der internationalen künstlerischen Avantgarde. Im Alter dann traten Kochkunst und klassische Musik an die Stelle der Fotografie. Welch aufregendes, schillerndes, kompromissloses, an Brüchen reiches Leben!

Der vielgesichtigen Lee Miller hat nun die Kunsthistorikerin und Buchautorin Gabriele Katz, die erst im vergangenen Jahr mit einem Band „Fantastische Künstlerinnen. Von Frida Kahlo bis Unica Zorn“ hervorgetreten ist, ihre Aufmerksamkeit gewidmet und sie als Protagonistin der Epoche zwischen und nach den beiden Weltkriegen gewürdigt. Lee Miller war ja nicht nur Schöpferin glamouröser Modefotos, sondern zu ihrem Werk gehören die eindringlichsten Kriegsdokumentationen des 20. Jahrhunderts. Katz hat ihre Darstellung zwar chronologisch aufgebaut, doch verweisen die einzelnen Lebens- und Schaffensphasen Lee Millers zwischen Bohème und leidenschaftlichem Engagement auf die jeweils veränderten Einstellungen, Sicht- und Verfahrensweisen. Es wird nicht nur eine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen, sondern auch nach der widerspruchsvollen Entwicklung Lee Millers vom hocheleganten Flapper Girl zur Fotopionierin, den ästhetischen Leistungen dieser Ausnahmekünstlerin, ihren persönlichen Beziehungen zur internationalen Kunstszene gefragt.

Schauen wir uns einmal Lee Millers Selbstporträt von 1932 an: Es zeigt ein edles, klassisch zu nennendes Gesicht mit träumerischen Augen. Die Miller hat sich in Kleidung und Haltung an den höfischen Bildnissen der Renaissance orientiert. Aber eigentlich machte sie „nur“ Werbung für ein gerade auf den Markt gekommenes Plaste-Haarband, das dem Betrachter kaum ins Auge fällt. Perfekte Schärfe hat die Fotografin stets mit größtmöglicher Genauigkeit verbunden. Ihre Bilder kann man auf den ersten Blick an ihrer Tonalität, ihrer Gefühlsbewegtheit und ihrem grafisch strengen Aufbau erkennen. Das Profil des surrealistischen Künstlers Joseph Cornell zum Beispiel lässt sie mit einem seiner Objekte verschmelzen. Sie hat die bedeutendsten Repräsentanten der Moderne – meist zusammen mit ihrem Werk – porträtiert: Jean Cocteau nach der Befreiung von Paris 1944 in der Kolonnade des Palais Royal; Paul Delvaux hinter Gitterstäben im befreiten Brüssel; die 71-jährige Romanautorin Colette, deren „krauses Haar einen Heiligenschein um ihren Kopf“ bildet; René Magritte, bei dem der hinter ihm aufgehängte Mantel mit Hut wahre halluzinatorische Angstträume auszulösen vermag; Hans Arp mit einem seiner bemalten Reliefs; Oskar Kokoschka bei der Arbeit an einem Triptychon; Joan Miró mit einem Nashornvogel, der seinen gemalten Urbilder-Gärten entsprungen zu sein scheint.

Vor allem aber hat sie immer wieder Picasso konterfeit, der wiederum ihr Porträt wenigstens sechsmal dargestellt hat. Lee hat ihn etwa 1937, kurz nach Vollendung von „Guernica“, abgelichtet, als er gerade mit seiner Werkserie „weinender Frauen“ beschäftigt ist; 1944, nach der Befreiung in seinem Pariser Atelier („wir fielen einander in die Arme, und während wir abwechselnd lachten und weinten und er mir in den Hintern kniff, sahen wir uns seine neuen Bilder an“, schreibt die Miller); oder 1960, Picasso einsam in seinem riesigen Chateau de Vauvenargues. Die Fotos zeigen ihn so ungezwungen, als ob ihm die Fotografin gar nicht gegenwärtig ist.

Lee Miller hatte entdeckt, dass Realismus, wenn er bis zum Äußersten detailliert wird, das Wirklichkeitsgefühl geradezu umkehrt. Anstatt das Bild als Fläche mit all den dazugehörigen Spannungen darzustellen, probierte sie das andere Extrem und behandelte das Bild wie ein vollkommen durchsichtiges Fenster.

Im Zweiten Weltkrieg begründete sie die Tradition eines engagierten Fotojournalismus und legte die Grundlagen einer militanten Fotografie, die sich als ästhetische Reflexion über die Macht des Bildes versteht. Sie dokumentierte die Auswirkungen des Blitzkrieges auf London und seine Bewohner, sie fotografierte englische Frauen, die in der Kriegswirtschaft härteste Männerarbeit verrichteten. Den Vormarsch der Alliierten durch Frankreich und Deutschland hat sie in Bildern und Kommentaren festgehalten, die erschütternde menschliche Schicksale aufspüren. Je weiter sie in das von dem NS-Regime besetzte Europa vordrang, traten ihr Hieronymus Boschs phantasmagorische Höllenvisionen und Bruegels makabre Todesszenerien vor Augen. In den KZs Dachau und Buchenwald presste sie die psychische Bedrohung und Gewalttätigkeit auf kleinen Raum zusammen – und wandelte die einmal erreichte Intensität in immer wieder anderen Metaphern und Bildern ab. Das fast erotische Porträt der toten Tochter eines ranghohen Leipziger Nazis zeigt Anklänge an Berninis „Verzückung der heiligen Theresa“ in Rom. Das Foto eines SS-Mannes , der sich an einer Heizung  im KZ Buchenwald erhängt hat, mutet wie eine Kontrastdarstellung zu Grünewalds gekreuzigtem Christus an.

Als geradezu surrealistisches Bild ging um die Welt, wie sie am 1. Mai 1945 in München in Hitlers Badewanne sitzt und sich abseift, während ihre mit dem Aschenstaub Dachaus bedeckten Kampfstiefel auf der dreckigen Badematte stehen. Die Besitzergreifung der intimsten Räume Hitlers sollte die endgültige Vernichtung des NS-Regimes augenscheinlich und sinnfällig dokumentieren. Zweifellos eine Inszenierung, die ihr Kollege David E. Scherman da schoss, der kurz darauf selbst in die Badewanne stieg, was nunmehr die Miller aufs Bild bannte.

Lee Millers Improvisationstalent und ihre handwerkliche Fähigkeit dominieren gegenüber der Erregung von Mitleid und Schrecken. Ihr Selbstporträt, geschminkt in tadellos sitzender Uniform, entbehrt nicht einer gewissen Koketterie – etwa in der Aneignung der männlichen Pose, die Zigarette in der Hand neben brandgefährlichen Benzinkanistern. Dagegen haben die US-Soldaten, die sich vor die Leichen der KZ-Häftlinge postieren, direkte Zeugenfunktion. Den erbärmlich knienden SS-Aufsehern ist die nackte Angst ins Gesicht geschrieben; sie steht im Widerspruch zu ihrer adretten Zivilkleidung, in der sie die Flucht antreten wollten. Erst durch den kritischen Blick wird die Dokumentarfotografie des Krieges überhaupt denkbar. Man erschrickt vor sich selbst als Betrachter. Lee Millers Aufnahmen von Vertriebenen, jüdischen KZ-Überlebenden, toten Nazis und verprügelten SS-Männern sind unnachsichtig, brutal und ergreifend zugleich, weil sie den Respekt vor der geschundenen menschlichen Kreatur bewahren.

Ja, Lee Miller hatte, wie die Autorin schreibt, „einen eigenen Blick und eine eigene Stimme entwickelt“. Doch gibt sie auch zu bedenken: „Um ihren Bildern dauerhafte Wirkmächtigkeit zu sichern, hätte Lee sie nun selbst entwickeln und eventuell bearbeiten müssen, damit sie in Galerien und Museen präsentiert werden konnten. Und das betraf nicht nur ihre Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg, sie hatte schließlich jahrelang als Porträtfotografin gearbeitet, Landschaften fotografiert und surrealistische Bildwelten komponiert, also ein komplexes Werk geschaffen.“ Aber diese notwendige Sichtungs- und Ordnungsarbeit ihres künstlerischen Werkes hat die Fotografin nicht unternommen.

Man kann zwar von den verschiedenen Leben der Lee Miller sprechen, aber ihre Fotografien sind die eines Lebens und einer Epoche. Das macht uns Gabriele Katz auf faszinierendende Weise bewusst.

 

Gabriele Katz: Lee Miller. Die Macht der Bilder, Verlag ebersbach & simon, Berlin 2023,

144 Seiten, 20,00 Euro.