Am 17. September gingen die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern zu Ende, wie immer mit einem klassischen Konzert in der domartigen Sankt-Georgen-Kirche in Wismar. Geboten wurde ein geradezu demonstratives russisches Programm. Anna Vinnitskaja spielte das 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow, und danach dirigierte der junge Slowake Juraj Valçuha die 5. Sinfonie von Sergej Prokofjew. Beide Künstler gehören zu der neuen und jungen Generation, die das Musikleben der kommenden Jahre bestimmen werden. Anna Vinnitskaja kommt aus der großen russischen Pianistenschule, sie studierte unter anderem in Rostow und dann bei Jewgeni Kolojow in Hamburg, wo sie jetzt selbst eine Professur innehat. Gemeinsam mit Juraj Valçuha absolviert sie gerade ein ehrgeiziges Projekt – eine weitweite Tournee mit allen fünf Klavierkonzerten von Rachmaninow. Juraj Valçuha ist seit 2022 Music Director des Houston Symphony Orchestra. Er studierte in Petersburg und Paris und stand bereits früh als Gastdirigent am Pult berühmter Orchester, wie dem Gewandhaus Leipzig, dem Concertgebouw Amsterdam, dem Orchestra Santa Cecilia Rom, den Wiener Symphonikern, den Berliner Philharmonikern oder der Dresdner Staatskapelle.
Es war ein Ereignis von nicht nur künstlerischer, sondern auch symbolischer Bedeutung und hätte wohl die Bezeichnung „Friedenskonzert“ verdient. Was den verfeindeten Kriegsbrüdern auf dem Schlachtfeld nicht gelingt – ein Zeichen der Versöhnung zu setzen –, das wurde hier zum Ereignis. Neben Rachmaninow, dem hartnäckigen Antikommunisten, stand der liberale russische Ukrainer Prokofjew, der in Bachmut geboren ist. Dessen 5. Sinfonie, 1945 entstanden, stimmt kein militärisches Triumphgeheul an, sie feierte weder den „weisen Stalin“ noch die „Große Ruhmreiche“ (rote Armee), sondern, wie der Komponist selbst sagte, „die Größe des menschlichen Geistes“ und das „Lied auf den freien und glücklichen Menschen“. Anna Vinnitskaja aber, die Anna Netrebko des Klaviers, wurde mit minutenlangen Ovationen geradezu bekränzt, während zur gleichen Zeit die andere, die des Gesangs, die politischen Buhrufe eines vergesslichen Publikums in der Berliner Staatsoper ertragen musste, das aus schlechter Gewohnheit die Kunst als Waffe präferierte. Das Festival im Norden aber setzte jenes Zeichen eines neuen Friedens, dessen unsere Welt so sehr bedarf.
Dieses Festival, nach 1989 ins Leben gerufen, entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten als eines der bedeutendsten Musikereignisse in Deutschland. Seine Programme umfassen das Konzert-Panorama von der Klassik bis zur Moderne, von Bach bis Strawinsky, von Rameau bis Ravel, von der Sonate bis zum Tango, vom Ambitionierten bis zum Populären. Nur das Beliebige bleibt ausgespart.
Der Geiger Daniel Hope, einer der Initiatoren des Festivals, kam diesmal mit dem „New Century Orchestra San Francisco“ und einem Programm mit Film-Musiken.
Das Akkordeon war dieses Jahr das „Instrument ins Residence“, das der Litauer Martynas Levickis in mehr als zwei Dutzend Konzerten in einer verblüffenden Bandbreite virtuos vorstellte.
In Rossinis Oper „La Cenerentola“ behauptet der Zauberer Alidoro „Die ganze Welt ist nur eine große Bühne“, und dies beherzigte die Direktorin es Festivals, die Wienerin Ursula Haselböck. Sie hat auch dieses Jahr, nach Corona-bedingter zweijähriger Pause, Mecklenburg-Vorpommern wieder in eine Bühne, vielmehr in ein Konzertpodium verwandelt. Es sang und klang in Theatern wie in Scheunen, in Kirchen wie auf Tanzböden, in Parks und Landgütern, in Festsälen und Pferdeställen und sogar im Lokschuppen von Pasewalk. Ganz Mecklenburg war wie verwandelt in eine klingende Landschaft.
Ist nun Mecklenburg dadurch schon das „Salzburg des Nordens“ geworden, wie es einst ein vermessener und vergessener Lokalpatriot prophezeite? Das kann man nicht behaupten. Salzburg hat Mozart, Bayreuth Richard Wagner, Leipzig Johann Sebastian Bach, Halle Georg Friedrich Händel, Verona die „großen Tenöre“, Mailand Verdi und Puccini. Wen dagegen könnte Mecklenburg vorweisen? Seit über 39 Jahren – so verheißt die Programm-Broschüre – bieten die Festspiele ihrem Publikum Momente der Begeisterung, der Ablenkung, des Staunens und der Freude. Und sonst nichts. Keine Botschaft in Zeiten über uns schwebender Nöte? Unterhaltung, sei sie auch noch so „klassisch“, ist ein zu bescheidenes Ziel.
Auf dem Weg zwischen Schwerin und Rostock liegt das kleine Städtchen Güstrow, und dessen Dom beherbergt eines der größten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts, den „Schwebenden Engel“ von Ernst Barlach mit den Gesichtszügen von Käthe Kollwitz. Einst als Mahnmal für die Toten des Ersten Weltkriegs geschaffen, von den Nazis eingeschmolzen, 1953 durch einen Nachguss ersetzt und durch die Inschrift nunmehr auch auf den Zweiten Weltkrieg bezogen, besitzt es eine bestürzende Aktualität. Es könnte dem fröhlichen Musik-Festival jenes mahnende Zeichen hinzusetzen, das ihm noch fehlt. Barlachs Figuren sind steinerne Musik, und oft hat er die Musik selbst und Musiker zum Gegenstand seiner Arbeiten gemacht, von seinen Dramen nicht zu reden, die zu dem „Jedermann“ Hoffmannsthals in ein beziehungsvolles Konkurrenzverhältnis treten könnten, und große Musikwerke, die Barlachs Botschaft weitertragen, existieren zur Genüge. Um nur einiges nennen: Benjamin Brittens „War Requiem“, Franz Werfels und Kurt Weills „Weg der Verheißung“, „Die Jüdische Chronik“ von Boris Blacher, Paul Dessau, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Rudolf Wagner-Regeny, „Canto sospeso“ von Luigi Nono, „Die Kriegsfibel“ von Dessau/Brecht, Krzysztof Pendereckis „Dies irae“ und die „Kriegs-Sinfonien“ von Sergej Prokofjew (4. und 5.) und Dmitri Schostakowitsch (7. „Leningrader“ und 8.); mit Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Rudolf Wagner-Regeny, könnte man die Aufzählung fortsetzen.
Als mecklenburgischer „Jedermann“ könnte Barlachs Drama „Die echten Sedemunds“ dienen, ein sehr unbequemes Stück, dessen schäbige „Helden“ die Mitläufer und Profiteure der Kriege und Katastrophen sind. Einer von denen hat das letzte, sehr nachdenkenswerte Wort: „Ein guter Ruf gilt uns einen ganzen Hümpel mehr als genaue Gerechtigkeit […]. Der gute Schein schirmt die gute Sache, und die gute Sache ist unser Schirm und Schutz.“
Aber solange die echten Sedemunds das Sagen haben, haben die anderen nicht viel zu sagen.
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