Ich war schon immer etwas arrogant. Und wenn jemand etwas arrogant ist, dann ist er rundum arrogant; etwas arrogant geht so wenig wie etwas schwanger. Und ich habe mich in den letzten über 30 Jahren leider nicht geändert: Ich trug und trage die Nase so hoch, dass mich der Gestank des wimmelnden, faulenden, gärenden Ost-West- oder Ost-Ost- oder West-Ost-Schlamms nicht erreichte.
Stimmt natürlich nicht.
Kann nicht stimmen.
Stimmte es, würde ich mich ja nicht an diesem Text versuchen.
Aber eins stimmt doch. Ich weiß nicht, warum ich mich als jener Bürger zweiter Klasse empfinden sollte, als ein Wesen, von dem immer mal wieder (eigentlich: immerzu) gesprochen oder geschrieben oder gesendet wird, wenn es um Bürger der DDR geht. Ich habe mich nie als Bürger zweiter Klasse empfunden. Ob beklagt, ob satirisch besprochen, ob empirisch erforscht, ob vorgewarnt – ich war ein Bürger der DDR und bin gegen meinen Wunsch Bürger der BRD geworden. Komplett ich, 186 Zentimeter lang, knapp 90 Kilo schwer, versehen mit einem Hirn, das ich nicht gegen ein anderes tauschen könnte oder wollte. (Schon gar nicht gegen ein westdeutsches; wenn‘s denn ginge, Austausch, wünschte ich mir das von Mozart.) Ich bin aus einem unvollkommenen (oder unvollendeten) Sozialismus in einen perfekten (und defekten?) Kapitalismus geraten. Ich wurde auf einer überraschenden Welle des Volkswillens auf den Strand geworfen, schüttelte mich, trocknete in der Sonne des Überflusses, wurde und werde den Burschen in mir nicht los, der einer verkackten Geschichte-Chance für eine Gesellschaft von Menschen, die frei von Ausbeutung und … na, Sie wissen schon, blablabla … nachtrauert – und wunderte mich nicht besonders.
Wenn ich – da lebte ich noch im Osten Berlins – „meine“ Leute jammern hörte, wie ungerecht das Leben geworden war, wie sie untergebuttert wurden, wie widerlich die neuen Chefs aus dem Westen waren, wie arrogant sie auftraten und für sich in Anspruch nahmen, alles besser zu wissen – und dann erwarteten sie noch Dankbarkeit! –, wie brutal die Situation auf dem Arbeitsmarkt geworden war, dann zuckte ich mit den Schultern. „Wir“ hatten den Kapitalismus gewählt, folglich galten seine Regeln. Ohne Wenn und Aber. Und alles, was verschleierte, was als schöner Schein über dem rohen Sein lag, war eben das: Schein, Parfüm, Glibber, Bigotterie, Gier.
Machte es mich zum Bürger zweiter Klasse, weil ich mich den Gegebenheiten, denen ich nichts entgegenzusetzen hatte – man kann einem Riesen ans Bein pinkeln; er merkt es nicht mal – fügte?
Wieso sollte diese Katalogisierung/Kategorisierung mich meinen? Wer bestimmt, wer Bürger erster oder zweiter Klasse ist? Und gibt es dann nicht auch noch die dritte, vierte, fünfte Klasse? An Wertungen abwärts auf einer Skala der Wertschätzung nach unten geht es vielleicht in das Inferno Dantes – oder ins Bahnhofviertel von Frankfurt am Main.
Ein Bürger zweiter Klasse? Gemessen an wem oder was? An einem Häuslebauer in Schwaben? Einem Mittelständler, der in Baden-Württemberg Schrauben herstellt? Einem Dichter, der konkrete Poesie zu den Bildern eines abstrakten Malers verfasst? Einem Reeder, dessen Schiffe im Hamburger Hafen ein- und auslaufen? Einem Politiker, der salbadert und kraft seiner Klientel Landrat wird? Einem Wirt, der Kölsch verkauft (ein Bier, das ich nie als Bier schmecken werde)?
Wissen Sie es? Können Sie mir sagen, wer erstklassig ist?
Meine Arroganz ist schrecklich. Ich bin nicht mal ein großartiger Gewinner der Veränderungen in den letzten 30 Jahren. Ich habe es nicht verstanden, dem Kapitalismus genügend Geld abzuringen, etwa für ein sorgenfreies Alter. Mir ist es nicht gelungen, einen gesellschaftlichen Status zu erreichen, von dem aus Arroganz verständlich, verzeihbar wird und sozusagen angemessen ist. Ich besitze nicht (ich bin nicht Eigentümer) von Immobilien, Aktien, Autos. Ich schätze, ich gehöre damit zu den meisten Menschen im Lande.
Vielleicht sind wir meisten dann doch zweitklassig?
Ob ich zu faul war, mich auf die Regeln des Kapitalismus einzulassen und sie zu benutzen? Oder ob ich zu blöd dafür war? Oder fand ich diese Schein-, respektive Scheinewelt zu obszön und zu unästhetisch? Oder – o weh – war ich doch zu zweitklassig, und der Schaffner verwehrte mir den Einstieg in den Waggon der ersten Klasse, wo es schlechten Kaffee, falsche Blondinen, bleiche Gebisse und die Tageszeitung umsonst gibt?
Ich weiß es nicht.
Was ich weiß: Ich habe mich nie als Bürger zweiter Klasse empfunden.
Das muss ich einfach mal zu Protokoll geben.
PS: So. Und nun werden sie kommen, die Hobby-Psychologen, und diagnostizieren: Weil du so vehement behauptest, nicht Bürger zweiter Klasse zu sein – eben deshalb bist du ein solcher. Nach dem Kampf-Motto: Wer in die Klinik eingeliefert wird und unaufhörlich ruft „Ich bin nicht verrückt!“, der wird erst recht als Irrer behandelt.
Macht mal, macht weiter so.
Schlagwörter: Bürger, Eckhard Mieder, zweiter Klasse