Ich müsste mal etwas aus meinem Leben für die Kinder und Kindeskinder aufschreiben.“ Das hat man schon sehr oft gehört, fast immer mit dem Nachsatz: „Wenn ich einmal nicht mehr bin, ist alles verloren.“ So ist es. Leider blieb es bei den allermeisten nur ein Vorsatz. Dabei hatte uns schon der Schriftsteller Elias Canetti vor vielen Jahren gewarnt und eindringlich zugerufen: „Auch die Erinnerung wird ranzig. Beeil dich!“
Bei Thomas Friedländer war das anders. Er hatte sich vorgenommen, die Geschichte seiner jüdischen Familie zu erforschen und zu dokumentieren, und er tat es über ein Jahrzehnt. Das Ergebnis liegt jetzt in Form des sehr persönlichen, ehrlichen und beeindruckenden Buches „Bonzos Auge“ vor.
Bonzos Auge? Bonzo war eine der ersten Zeichentrickfiguren überhaupt und ging auf den englischen Künstler George E. Studdy in den 1920er Jahren zurück. Ein kleiner Pitbullterrier mit großen Augen, stets tatendurstig und immer Herr der Lage. Wegen seiner braunen Augen, seines schnellen Auffassungsvermögens und seiner Fähigkeit, Dinge zuverlässig und rasch in die Tat umzusetzen, wurde Bonzo der Spitzname für Paul Friedländer, den Protagonisten und Vater des Autors. Und das seit der frühesten Jugend in Berlin. Allerdings spielten seine Augen bei aller Lebensfreude und Zuversicht letztlich nicht mit; seine Sehschwäche verschlimmerte sich, er verlor ein Auge, und auch das andere erblindete.
Hermann Simon, der Gründungsdirektor der Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum, schreibt in seinem Vorwort, dass Thomas Friedländer akribisch die Geschichte seiner Familie untersucht und unendlich viele Details herausgefunden hat, die er zu einem Ganzen gefügt hat. „Dabei lässt er die Leserinnen und Leser an der – mitunter kriminalistischen – Suche nach Schicksalswegen seiner Familienangehörigen teilhaben.“
Bonzos Eltern stammten aus Oberschlesien, er wurde 1921 geboren. Seine Mutter verstarb früh, sein mittelloser Vater hoffte in Berlin auf eine Anstellung, musste sich aber mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Noch vor seiner Einschulung kam Bonzo in ein Berliner jüdisches Waisenhaus. Er engagierte sich in der antifaschistischen Widerstandsgruppe um den jüdischen Kommunisten Herbert Baum. Bereits 1935 verteilte er mit Freunden als Vierzehnjähriger Flugblätter gegen das faschistische Regime.
Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, am 26. August 1939, konnte er mit dem letzten Kindertransport vom Fernbahnsteig des Bahnhofes Berlin-Friedrichstraße über Holland nach England ausreisen – obwohl er das 18. Lebensjahr schon erreicht hatte. Aber für Waisenkinder gab es Ausnahmen. Offenbar hatten die Kontrolleure Schwierigkeiten, im Dämmerlicht das genaue Geburtsdatum zu entziffern. Zwischen dem 30. November 1938 und dem letzten Transport 1939 konnten etwa zehntausend jüdische Kinder gerettet werden, aber zwei Millionen jüdische Kinder wurden von den Nazis ermordet.
Erst nach seiner Rückkehr 1947 nach Ost-Berlin kam er unter großen Hindernissen zur ersehnten akademischen Laufbahn. 1952 begann er ein fünfjähriges wirtschaftswissenschaftliches Studium. Er habilitierte und wurde im Herbst 1977 an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR zum Professor berufen.
In der DDR hatte Paul Friedländer nicht nur Akzeptanz, sondern auch Wertschätzung erfahren, und war als antifaschistischer Widerstandskämpfer und Verfolgter des Naziregimes anerkannt. Er hatte aber einen Preis dafür bezahlt, denn seine Herkunft passte nie richtig in die politische Landschaft in Deutschland: als Jude in Nazideutschland, als Enemy Alien (Feindlicher Ausländer) und Internierter in England und Australien und als Westemigrant der frühen DDR.
Die Landesparteikontrollkommission der SED hatte ihn sogar im Verdacht, dass er ein feindlicher Agent sein könnte, wogegen sich Bonzo mit Vehemenz zur Wehr setzte. Er trat nicht nur selbstbewusst auf, sondern war ein brillanter Redner mit einer großen rhetorischen Begabung, wodurch er schnell Zuhörer für seine Standpunkte gewann.
Paul Friedländer war in den 1960er Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter am Orientalischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig. Als einer der frühen Asien-, Afrika- und Lateinamerikaforscher der DDR reiste er u. a. nach Indien, wo er mit anderen Institutsmitarbeitern von der damaligen Ministerpräsidentin Indira Ghandi empfangen wurde.
Thomas Friedländer erinnert sich noch gut an die damalige These seines Vaters von der „sozialistischen Insel im kapitalistischen Ozean“. Damit charakterisierte der Vater das ökonomische Kräfteverhältnis zwischen den damaligen RGW-Ländern und den westlichen Staaten und das Unvermögen ersterer, diesen Wettlauf jemals zu gewinnen, wenn es keine Reformen gäbe. In dieser Frage hatte er sich als Prophet erwiesen.
Aus heutiger Sicht ist es völlig unverständlich, dass sich in der DDR der Glaube an den Sozialismus und die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft ausschlossen. Auch Bonzo und seine Frau stellten ihre Parteizugehörigkeit vor ihre jüdischen Wurzeln, lesen wir. Als das Sehvermögen von Paul Friedländer immer schlechter wurde und er zunehmend unter Depressionen litt, nahm er sich im Februar 1980 das Leben.
Ein Kapitel seines Buches mit dem Titel „Schicksalserkundungen und Begegnungen (2004 bis 2022)“ widmet sich der Suche nach verschollenen Familienangehörigen. Thomas Friedländer findet sie auf der ganzen Welt, so in Frankreich, Großbritannien, Israel und in den USA. Ein Schicksal schlimmer als das andere, heißt es. Und er erinnert an die vielen Familienmitglieder, die von den Nazis ermordet wurden. Seiner Urgroßtante Jenny wurde am 30. November 1941 nahe Riga im Wald von Rumbala zusammen mit über 1000 aus Berlin Deportierten erschossen, vom Kleinstkind bis zum Greis. Im Wald bei Rumbala, erinnert der Autor mahnend, wurden während des Holocaust etwa 27.500 Juden bei zwei Massenerschießungen getötet. Bei den anderen Opfern handelte es sich um lettische Juden aus dem überfüllten Ghetto Riga. Lediglich zwei Menschen überlebten die Massaker.
Der Autor studierte von 1968 bis 1973 Afrikanistik und Wirtschaftswissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig, promovierte und habilitierte am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) der DDR. Sein Buch zeichnet die Schicksale seiner deutsch-jüdischen Familie nach und beeindruckt durch seine Offenheit, Ehrlichkeit und Verletzlichkeit, was auch die eigene Person und sein nicht immer einfaches Verhältnis zu seinem Vater betrifft. Er gab dem Unsagbaren viele Stimmen. Er schrieb das Buch nicht vordergründig, um der Menschheit zu helfen, sondern sich selbst. Aber gerade dadurch ist es so aktuell.
Thomas Friedländer: Bonzos Auge, Edition Schwarzdruck, Gransee 2023, 399 Seiten, 27,00 Euro.
Schlagwörter: Frank-Rainer Schurich, Jude in der DDR, Kindertransport, Paul Friedländer, Thomas Friedländer, Westemigrant