26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

„Schlimmstenfalls wird alles gut“

von Renate Hoffmann

Der Tugenden eine ist die Gelassenheit. Zur Verständigung: Gemeint ist die „innere Ruhe“, die man hat oder nicht. Sie ist ein Stück einfacher Lebenshaltung und erstrebenswert.

Gelassenheit zählt zu den vier Kardinaltugenden, nämlich zur „Mäßigung“. Sofern man die drei restlichen (Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit) noch hinzufügt und danach lebt, erreicht man die Glückseligkeit, lehrt Aristoteles. Werden die „10 Gebote der Gelassenheit“ mit dazu genommen – seit langer Zeit bekannt und von Papst Johannes XXIII. erneut formuliert – so kommen mir ernste Zweifel an der Erfüllbarkeit dieses Konvoluts.

Ich entscheide mich für eine Halbglückseligkeit. Die Nummer fünf der Gebote nehme ich jedoch umgehend an: „Nur für heute“ (und auch an anderen Tagen!) „werde ich zehn Minuten meiner Zeit einer guten Lektüre widmen. Wie die Nahrung für das Leben des Leibes notwendig ist, ist die gute Lektüre notwendig für das Leben der Seele.“

Vielleicht erschien es Clara Paul, der Herausgeberin des kleinen Gedichtbandes über die Gelassenheit, von Nutzen, die vergessene Eigenschaft insbesondere für unruhige Zeiten wieder ins Licht zu rücken. Sie wählte aus, was Andere darüber dachten und reimten. Ein Quäntchen Melancholie liegt über den Gedichten, ein Quäntchen Humor schwingt mit, und ein Quäntchen Selbstironie findet auch seinen Platz. Nicht zu vergessen die Ruhe, die sie ausstrahlen und auf diese Weise die Tür zur inneren Ausgeglichenheit aufschließen.

Den Reigen soll Hans-Ulrich Treichel eröffnen, der den originellen Titel erfand, der auch für das Büchlein verwendet wurde: „Schlimmstenfalls wird aufgeräumt / In Herz und Seele Aug und Ohren / Schlimmstenfalls ist ausgeträumt / Was wir wollten längst verloren […] / Schlimmstenfalls fehlt uns der Mut / Schlimmstenfalls wird alles gut.“ („Schlimmstenfalls“) – Gefolgt von Rahel Varnhagen, die mit elf Wörtern das Thema auf den Punkt bringt: „Was ich tue? Nichts! Ich lasse das Leben auf mich regnen.“ – Kaum denkbar, dass sich Geheimrat Goethe nicht zur Gelassenheit geäußert haben sollte. Diesbezügliche Gedankenspiele galten mitunter auch der Selbstermahnung, denn so ausgeglichen gab er sich nicht zu jeder Stunde. Als J. W. G. im Jahre 1818 in Karlsbad seinen Geburtstag um einen Tag zu früh gefeiert hatte und Hofrat Rehbein – der Medikus – ihn darauf aufmerksam machte, soll er vollmundig ausgerufen haben: „Donnerwetter! Da habe ich mich umsonst besoffen.“ Geläutert und versöhnlicher hingegen klingen seine Zeilen: „Ich weiß, dass mir nichts angehört, / Als der Gedanke, der ungestört / Aus meiner Seele will fließen, / Und jeder günstige Augenblick, / Den mir ein liebendes Geschick / Von Grundaus lässt genießen.“ („Eigentum“).

Mit den „Vergnügungen“ lenkt B. B. das Augenmerk auf die kleinen Freuden des Alltags: „Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen […] Die Zeitung / Der Hund / Die Dialektik Duschen, / Schwimmen / Alte Musik […] Schreiben, / Pflanzen […] Freundlich sein.“ Beim Lesen regt sich der Gedanke, Umschau im eigenen Revier zu halten.

Was Eduard Mörike erdachte und zu Papier brachte, wird mein Lieblingsgedicht: „Gelassen stieg die Nacht ans Land, / Lehnt träumend an der Berge Wand; / Ihr Auge sieht die goldne Waage nun / Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn, / Und kecker rauschen die Quellen hervor, / Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr / Vom Tage, / Vom heute gewesenen Tage. […].“ („Um Mitternacht“) Ich lerne es. Und wenn ich irgendwo, irgendwann an die Grenzen meiner Geduld stoße, werde ich es leise sprechen, bis sich der Gleichmut wieder einstellt.

Theodor Storm vertritt die Gelassenheit mustergültig und verleiht ihr eine heitere Note: „Die verehrlichen Jungen, welche heuer / Meine Äpfel und Birnen zu stehlen gedenken, / Ersuche ich höflichst, bei diesem Vergnügen / Wo möglich sich insoweit zu beschränken, / Dass sie daneben auf den Beeten / Mir die Wurzeln und Erbsen nicht zertreten.“ („August. Inserat“) – Hermann Hesse liebt die leisen Töne und umgibt seine Betrachtung mit Melancholie: „Jede Blüte will zur Frucht, / Jeder Morgen Abend werden, / Ewiges ist nicht auf Erden / Als der Wandel, als die Flucht. […]“ („Welkes Blatt“)

Hans Magnus Enzensbergers Worte klingen fast wie ein Abschiednehmen, ruhig und gefasst und mit einem Tupfer Humor obendrein: „Vielen Dank für die Wolken. / Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier / und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel. / Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn / und für allerhand andre verborgne Organe […] und, damit ich es nicht vergesse, / für den Anfang und das End  / und die paar Minuten dazwischen / inständigen Dank, / meinetwegen für die Wühlmause / draußen im Garten auch.“ („Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur“)

Das Gemälde „Dienstmagd mit Milchkrug“ des Malers Jan Vermeer van Delft nahm Wisława Szymborska zum Anlass, ihren Begriff vom seelischen Gleichmaß tröstlich enden zu lassen: „Solange diese Frau aus dem Rijksmuseum / in der gemalten Stille und Andacht / Tag für Tag Milch / aus dem Krug in die Schüssel gießt, / verdient die Welt / keinen Weltuntergang.“ („Vermeer“)

Außer den Vorgenannten äußern sich zur Seelenruhe, des Weiteren: Robert Walser, Theodor Fontane, Gottfried Benn, Eva Strittmatter, Robert Gernhardt, Anna Achmatowa, Paul Celan, Johann Gottfried Herder, Rose Ausländer, Reiner Kunze.

Man liest und liest und wünscht sich, den kleinen roten Gedichtband bei Unruhe, Erregtheit und Stress-Situationen zur Hand zu haben. – Bitte: Hans -Ulrich Treichel ersuche ich nunmehr höflich, mir die kleine Änderung in seiner genialen Gedichtüberschrift nachzusehen: Bestenfalls wird alles gut.