26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Folkways Records: Die Musik des Volkes

von Mario Keßler

Am Beginn der Plattenfirma Folkways Records, die 1948, vor nunmehr 75 Jahren, in New York gegründet wurde, steht eine Anekdote: Acht Jahre zuvor, im Jahr 1940, war der aus Europa vertriebene jiddische Schriftsteller Shalom Asch (1880–1957) mit seinem Sohn Moses (1905–1986) nach Princeton gereist, um Albert Einstein zu besuchen, den er aus Deutschland kannte. Als Einstein den jungen Asch nach seinem Beruf fragte, erzählte dieser ihm, dass er im Bereich des Radios und der Radiotechnik, insbesondere bei Aufnahmeverfahren, tätig sei. Einstein war von dieser Berufswahl fasziniert und ermutigte den jungen Mann, alle Klänge der Welt aufzuzeichnen und zu dokumentieren, um eine Enzyklopädie des menschlichen musikalischen Ausdrucks zu schaffen. Asch sah dies fortan als Lebensaufgabe an.

Shalom Asch war bereits vor dem Ersten Weltkrieg aus dem russisch besetzten Teil Polens nach New York ausgewandert, hatte die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erworben und beim linkssozialistischen Forward gearbeitet. Als dessen Europakorrespondent, als Übersetzer und Romancier lebte er in der Zwischenkriegszeit zuerst in Deutschland, dann wiederum in Polen, bevor er mit Beginn des Zweiten Weltkrieges in die USA zurückkehrte.

Sein Sohn Moses Asch, oft kurz genannt Moe, interessierte sich für das neue Gebiet der Radiotechnik und ging 1921 nach Deutschland, wo er in Bingen am Rhein eine Ausbildung als Elektroingenieur erhielt. Als Dollarbesitzer kam er gut durch die Inflationszeit. Doch erlebte er die soziale Entwurzelung der Nachkriegs-Generation, was sein sozialistisches Bewusstsein schärfte. Ende 1925 in die USA zurückgekehrt, war Moses Asch als Toningenieur bei verschiedenen Rundfunkstationen, darunter bei RCA Victor in New York tätig, bevor ihn 1938 der Forward mit dem Aufbau eines jiddisch-sprachigen Programms für WEVD (Woodhaven Emitting Victor Debs), den der Sozialistischen Partei nahestehenden Sender, beauftragte. Mit finanzieller Unterstützung seines Vaters gründete er 1940 Asch Recordings, eine Produktions- und Vertriebsfirma für Schallplatten. Sie hielt sich bis Anfang 1948.

Marian Distler (1919–1964), Moe Aschs bisherige Sekretärin (Absolventin des Hunter College) schuf mit 6.000 Dollar, die sie in das neue Unternehmen Folkways Records investierte, die Grundlage für den Neustart. Die Idee war, die authentische Musik Amerikas und anderer Länder zu bewahren, bevor sie durch den Kontakt mit der Massenmusik des Radios verflacht werde. Die aufkommende Vinyl-Langspielplatte war dabei eine große Hilfe. Folkways Records gab damals jungen Sängern wie Woody Guthrie, Cisco Houston und Leadbelly (Huddie Ledbetter) eine Bühne. Asch und Distler entwickelte ein risikoreiches Geschäftsmodell: Die Künstler wurden (manchmal einmalig) im Voraus bezahlt mit dem Versprechen, dass jede Aufnahme unabhängig vom finanziellen Erfolg im Katalog verbleiben sollte. Der ingenieurtechnisch versierte Asch verbesserte sein damals sehr ungefüges Aufnahmegerät soweit, dass es tragbar und transportabel war.

Das Geschäft lief zunächst nicht sehr gut. Marian Distler und Moe Asch, die damals einzigen Angestellten, verdienten jeweils etwa 25 Dollar pro Woche mit dem Verkauf von Schallplatten. Mit Zuschüssen von Stiftungen, Plattenhändlern und anderen Plattenfirmen hielten sie sich über Wasser. Sie machten die Aufnahmen, verpackten die Platten und brachten sie zur Post. Ab 1950 schrieb das Unternehmen schwarze Zahlen.

Die ersten vier Folkways-Platten zeigten bereits die Breite des künftigen Katalogs. Es handelte sich um kubanische Folklore, Musik der amerikanischen Ureinwohner und die erste von mehreren Jazz-Anthologien. In den nächsten Jahren wurden unter anderem Woodie Guthrie, Pete Seeger und die New Lost City Ramblers, die Bluegrass-Musiker Hazel Dickens und Alice Gerrard, die Blues-Größen Lightnin‘ Hopkins, Sonny Terry und Brownie McGhee und später auch die Folk-Sängerin Lucinda Williams aufgenommen, ebenso Sprechplatten mit Langston Hughes und Allen Ginsberg. Dokumentiert wurden indigene Sänger aus Brasilien und Hillbilly-Bluegrass-Bands wie das Geheul metallener U-Bahn-Räder, die an den Gleisen rieben, das Geräusch von Dampflokomotiven, das Zwitschern von Insekten, und das Summen und Surren der ersten Computer. Bob Dylans schrieb in seiner Autobiografie, warum er nach New York ging: „Ich stellte mir vor, für Folkways Records Songs aufzunehmen. Das war das Label, auf dem ich sein wollte. Das war das Label, das all die großartigen Platten herausgebracht hat.“ Asch produzierte bis 1986 nicht weniger als 2168 Alben. Er hielt unter großem finanziellem Risiko seinen Künstlern auch die Treue, als viele in den 1950er Jahren wegen ihres angeblich „unamerikanischen“ Verhaltens von den großen Radiostationen boykottiert wurden.

Zu den frühen Meilensteinen der Firma gehörte 1952 die „Anthology of American Folk Music“, deren 84 Stücke zwischen 1926 und 1933 aufgenommen wurden. Der Experimentalfilmer Harry Everett Smith (1923–1991) stellte sie auf drei LPs zusammen.

Eine weitere Schlüsselpersönlichkeit im Umkreis von Folkways Records war der Journalist, Redakteur und Verleger Irwin Silber (1925–2010). Der aktive Kommunist gründete als Student am Brooklyn College die American Folksay Group und später die Produktionsfirma People’s Song, die in Zeiten politischer Ausgrenzung linker Künstler Pete Seeger, Woody Guthrie, Paul Robeson, Alan Lomax und Earl Robinson förderte, die auch Teilhaber der Gesellschaft waren oder wurden. Zusammen mit Seeger publizierte er das Magazin Sing Out!, das von 1951 bis 1967 erschien. Das Magazin veröffentlichte frühe Kompositionen und Texte von Bob Dylan und Joan Baez, aber auch des unglücklichen Außenseiters Phil Ochs. Hinzu kam die Gründung von Oak Publications für Zusammenstellungen von Texten der Folk- und Bluesmusik.

Mit einem Tonbandgerät dokumentierten Moe Asch und Guy Carawan die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und ihre Protestsongs. Moe Ash verwendete Ben Shahns Artwork für Albumcover, und er leistete Pionierarbeit bei der Verwendung detaillierter Liner Notes. Dabei vermied Asch lange Zeit Stereo-Aufnahmen, weil sie die Akustik seiner Meinung nach verfälschten. Er mochte auch das Multitrack nicht, weil es dem Ingenieur zu viel Macht einräume. Moe Asch wollte alle Aufnahmen über ein einziges Mikrofon aufzeichnen und sich auf die Musikalität der Interpreten verlassen, um einen ausgewogenen Klang sicherzustellen. Noch heute, mit weit verbesserten Aufnahmeverfahren, wird seine Professionalität von Technikern für ihre Klarheit, Integrität und Treue zu den dargebotenen Klängen gelobt.

Ein ehernes Prinzip von Folkways Records war, dass die Aufnahmen soziale Werte enthalten und widerspiegeln. Moe Asch sagte dazu in einem Interview, das National Public Radio am 10. November 2008 erstmals ausstrahlte: „Ich habe mehrere Kassetten mit Liedern der Nazi-SS-Truppen besessen, aber ich werde sie nicht herausgeben. Ich werde keine Propaganda verbreiten oder irgendetwas, das gegen Menschen verwendet wird.“ Er betonte: „Meine Pflicht besteht darin, dafür zu sorgen, dass Folkways ein Aufbewahrungsort für die Klänge und Musik der Welt bleibt und dass diese für alle verfügbar bleiben.“ Die wahren Eigentümer von Folkways Records seien, so Asch, „die Menschen, die das, was wir aufgenommen haben, aufführen und kreieren, und nicht die Menschen, die das Produkt herstellen und verkaufen. Die Verpflichtung des Unternehmens besteht darin, das Büro, das Lager, die Abrechnung und den Einzug von Geldern zu unterhalten, die Miete und das Telefon zu bezahlen usw. Folkways ist erfolgreich, wenn es zum unsichtbaren Kanal von der Welt zu den Ohren der Menschen wird.“

Nach Aschs Tod ging Folkways Records 1986 als eigenständige Sammlung in den Bestand der Smithsonian Institution als wichtigstem Bewahrer nordamerikanischen Kulturguts ein. Ein Beirat unter dem Vorsitz von Moes Sohn Michael Asch kontrolliert, dass jede Aufnahme stets für die Öffentlichkeit zugänglich bleibt.