26. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2023

Abfallprodukte zu Kunstwerken

von Klaus Hammer

Sie macht etwas, was eigentlich die Dadaisten schon getan haben: Die an der Peripherie Berlins lebende Grafikerin, Malerin und Objektkünstlerin Edith Wittich leert die „Fundgrube“ Papierkorb, sie dreht und wendet die Materialien, zerschneidet sie, kombiniert sie mit anderen Materialien, fügt ihnen ihre eigene Handschrift hinzu, erzielt mit Spiel und Phantasie faszinierende grafische wie malerische Wirkungen. In Collagen, Assemblagen und Objekten verwendet sie Papiere, Teebeutel, Seidenpapiere, Draht, Plasteflaschen, Wellpappe, Briefumschläge, Verpackungsmaterialien und vieles andere mehr und formt so Abfallprodukte zu beeindruckenden Kunstwerken, die durch ihre besondere Titelgebung auch zum Nachdenken anregen.

Das Grundprinzip der von ihr jetzt in der kommunalen Galerie Birkenwerder ausgestellten Papierarbeiten, der Papiercollagen – und davon soll hier vornehmlich die Rede sein – ist die Faltung, durch die das jeweilige Papierobjekt gebildet wird. Die Faltung gibt einer Sache stets mehrere Ansichten, links und rechts, hoch und tief, oben und unten, hell und dunkel, transparent und opak, monochrom und polychrom, zudem gibt sie dem Leichten Stabilität. Außerdem sorgt sie für Differenzierung und Komplexität. Man denke nur an die Symphonie eines Faltenwurfs, die Poesie der Öffnung eines Fächers, die konstruktive Kraft einer Auffaltung von Architektur über einem Grundriss, aber auch an die subtile erotische Provokation etwa eines Plisseerocks. Weiter gedacht, ergibt sich so aus der Faltung auch ein Instrument künstlerischer Strukturierung und Verwandlung, ja fast eine Methode. Vielleicht ist es auch diese Vorstellung von Entfaltung, die bestimmte, diesem Prinzip folgende Gegenstände so faszinierend erscheinen lässt.

Aber wie ist es nun mit den Briefumschlägen, die private oder amtliche Mitteilungen enthalten und die in der Regel, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben, weggeworfen, entsorgt werden? Dass Abfallprodukte zu Kunstwerken erhoben werden, indem man sie ihrer realen Funktion entledigt, kennen wir eben schon seit der künstlerischen Moderne. Kurt Schwitters transponierte Abfall in die Kunst – das Ding selbst, schäbig, fleckig, abgeblättert, rostig, verbogen, zerrissen, zerknüllt, aber imstande, durch unendliche Kombinationen unter der arbeitenden Hand des Künstlers zu neuem Leben zu erwachen. Sein Kompositionssystem basierte auf einem festen kubisch-konstruktivistischen Schema: trotz der kontrastierenden Materialien waren ihre Kanten, Durchmesser, Oberflächen und Farben genau abgestimmt, und die Schriftfragmente benutzte Schwitters mit der Absicht, Punkte lesbarer Wirklichkeit in das Fließen der Materialien hineinzubringen. Dagegen sucht Edith Wittich ihrem Abfallprodukt – bleiben wir beim ausgedienten Briefumschlag – eine geheimnisvolle Innenwelt zu entlocken. Sie öffnet deren Innenseiten, zerlegt und entfaltet sie. Diese Innenseiten sind schlicht und karg oder mit Seidenpapier gefüttert, sie haben unterschiedliche Tönung und Färbung, unterschiedliche Formen, Raster, Muster, Signets, die sie zu geometrischen Bildsystemen zusammenfügt. Dabei kommen Aspekte der bewussten Zeichensetzung und des Zufalls zueinander. So entstehen Artefakte, die zum Ereignis werden. Edith Wittich interessieren vor allem die Strukturen, die zu unterschiedlichen formalen Ausprägungen führen.

Dabei spielt die Beschaffenheit des Materials – des Papiers – eine wesentliche Rolle. Auch wenn die dritte Dimension in ihren Papierobjekten zu fehlen scheint, bedeutet Faltung, Entfaltung räumliche Ausdehnung. Durch mehrfach umgebrochene oder auch abgetrennte Streifen scheinen die Gebilde zu schweben. Bewegliche Raumformen aus Quadraten, Dreiecken, Rechtecken, Rhomben, Trapezformen, überhaupt mehrfach gebrochene Flächen entstehen. Oder es kommt zu einer vertikalen Aufrichtung der Fläche, einer horizontalen Lagerung, einem Balancieren der Teile, einer konstruierten Geraden oder einer vom Zufall bestimmten Kurve als ergänzende Elemente. Oder auch zu einer Aufklappung der ausgeschnittenen Form in doppelseitiger Entsprechung. Eigentlich haben wir es mit einer statuarischen Form zu tun, aber durch ihre sorgsame Parallel- oder Konträrfaltung erhält sie eine atmende Beweglichkeit.

Eine Spannweite wird vorgeführt, in der auch das Zufällige und Ephemere einbezogen bleibt. Faltung kann ein Faltenschlag sein, Brechung zum Knitter- und Knüllobjekt, Beweglichkeit zum freien Spiel führen.

Das Faszinierende am Werk von Edith Wittich ist die fast in jeder Arbeit spürbare Spannung zwischen einer von gegenstandslosen Formprinzipien her aufgebauten autonomen Kunstwelt und ihrer Nähe zur inneren Wirklichkeit der Natur. Die Künstlerin bildet Natur und Wirklichkeit nicht ab und abstrahiert sie auch nicht, sondern fühlt sich auf dem Weg über Strukturstudien in ihre Gesetzmäßigkeit ein. Aus der Meditation über die Natur entsteht die Vorstellung von rhythmischen Grundstrukturen des Raumes, des Wachsens, der Statik und Schwerkraft, der Dynamik des Schwebens und Fliegens, und aus diesen Grundstrukturen wird durch die Gestaltung unversehens, aber doch notwendig, wieder Natur, nicht deren Abbild, sondern deren Wesen.

Formen assoziieren sich in ihren Arbeiten zu traumhaften Symbolen, die beim Betrachten den Wunsch auslösen, in nicht zu enträtselnde Geheimnisse einzudringen. Der Weg vom Abbildhaften zum Zeichenhaften ist bei ihr deutlich zu verfolgen, und in der Natur dieser Zeichen bleibt das Abbildhafte erkennbar, verdichtet zum psychisch-assoziativen Element.

So erreicht sie auch eine tiefenräumliche Steigerung der Farbe. Zwischen die Farbschichten setzt sie die hellen Muster ihrer in divergierenden Richtungen geordneten Linienabläufe, wodurch die Zeichnung verschiedenen Tiefenschichten der Malerei angehören kann.

Als ein Freund, der sie bei der Arbeit beobachtete, Edith Wittich fragte: „Was hast du hierbei eigentlich selbst gemacht?“ antwortete sie nur schlicht und einfach: „Beobachtet“.

Edith Wittich – Collagen und einige Objekte. Kommunale Galerie 47, Hauptstr. 47, 16547 Birkenwerder, Sa / So 15 – 18 Uhr und nach Vereinbarung (kontakt@galerie47-birkenwerder.de), bis 17 September.