Das Bildungswesen unserer Tage ist beklagenswert. Allerorten gibt es permanent akuten Lehrermangel, vergeblich verlangen Schulen dringende Reparaturen ihrer Gebäude und Einrichtungen. Die Schülerschar ist unterschiedlicher Herkunft, auch unterschiedlich in ihrer Lernbereitschaft. Es ergeben sich Fragen: Ist es wirklich so schlimm, gibt es ernsthafte Begründungen? Kann es so bleiben oder soll sich da etwas ändern?
Es muss sich etwas ändern. Sich damit abfinden, zufriedengeben und verzichten auf die eigentlichen Werte des Unterrichtens? Das wäre der Untergang aller Werte und wenn man den Glauben an die Zukunft schon verloren hat oder er stark beschädigt ist, sind wir schon mitten drin im Untergang. Ich möchte in diesem Beitrag einige Hinweise zu gelingendem Unterricht aus eigener Erfahrung geben
Patentrezepte gibt es nicht. Eine Lösung liegt in der Persönlichkeit der Tätigen begründet, ebenso ist eine Lösung an die jeweilige Situation des Tuns gebunden. Beides sind keine stabilen Größen, sie verändern sich, sie müssen sich verändern, wenn sie mit der sich verändernden Zeit Schritt halten wollen.
In Anlehnung an das Kinderspiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ ist der Spruch „Ich weiß was, was du nicht weißt“ eine verbreitete und gefährliche Grundhaltung der Pädagogik. Den Lernwilligen wird das Werden und Wachsen von Weisheiten vorenthalten und sie werden nur mit dem Ergebnis konfrontiert, das sie wegen der Unabänderlichkeit hinzunehmen haben.
Dies Unabänderlichkeit aber hat Grenzen. Zu oft in der Geschichte der Menschheit haben sich scheinbar gesicherte Erkenntnisse als brüchig erwiesen. Die Zeit rechtfertigt manche Weisheiten und ebenso den Zweifel daran und gibt so Raum für neue Weisheiten. Und darin soll der Lernende einbezogen werden: Er soll sich als Teil des Werdens und Wachsens und auch des Vergehens verstehen und in die Rolle des aktiven Gestalters schlüpfen und nicht in die Rolle des passiv Erduldenden gedrängt werden.
Es ist Tatkraft gefragt. Wenn es dann so einfach wäre.
Einige Beispiele aus meiner Unterrichtserfahrung im Fachgebiet Musik, die schon in meiner Kindheit begann, also mittlerweile über 70 Jahre umfasst, nicht um die Beispiele nachzumachen, sondern um aus ihnen zu erkennen, welchen Zweck soll eine Beschäftigung mit der Aufgabe erfüllen. Die folgende Auswahl ist zufällig und auch an das vorgegebene Format des Blättchens gebunden.
Die ersten drei Aufgaben beschäftigen sich mit dem Werk, der Komposition, mit Inhalt, mit Anfängen und mit Schlüssen.
Erstens: Der Schüler soll die Idee einer Komposition erkennen, soll sie von der Musik trennen und dann untersuchen, ob die Musik seiner Meinung nach der Idee gerecht wird. Er beurteilt, ob die Musik die Idee erfüllt, mäßig erfüllt, genial oder gar nicht erfüllt. Er entscheidet, insofern ist seine Entscheidung erstmal richtig. Der Lehrer kann helfen, sanft korrigierend, offensichtliche Fehlurteile zu beseitigen.
Zweitens: Der Schüler soll aus den ersten Intervallen einer Komposition Schlussfolgerungen über den weiteren Verlauf der Komposition ziehen. Er vergleicht seine Vorstellungen mit denen des Komponisten und kommt zu einem Ergebnis. Dem Lehrer bleibt die Rolle des sanften Korrigierens.
Drittens: Der Schüler sortiert die Kompositionen, die er kennt, nach Art der Abschlüsse. Allein das wäre schon eine bemerkenswerte Leistung. Er wird übergreifende Gemeinsamkeiten erkennen, in die er dann individuelle Besonderheiten einbettet. Veränderung, Schlusspunkt, Schlusspointe, Scheinschluss oder Coda können Beispiele für eine Kategorisierung sein.
Auch im Fach Musikgeschichte findet man Möglichkeiten, den Schüler zu einer Haltung zu bringen, nicht nur zu Kenntnisnahme der Tatsachen. Die drei folgenden Aufgaben betreffen den Vergleich Bach und Händel, Tschaikowsky und Dvořák hinsichtlich ihrer letzten Sinfonien und eine Bestandsaufnahme der Uraufführungen im Jahre 1928.
Erstens: Ein Vergleich Bach und Händel bringt Erstaunliches zu Tage. Beide 1685 geboren, nicht weit von einander entfernt, Eisenach und Halle. Beide nie einander begegnet, aber übereinander bestens informiert. Bach hat in seinem bescheidenen Umfeld nur einen kleinen Teil Deutschlands bereist, Händel dagegen mehrfach Italien, Deutschland und England und er war sehr vermögend. Sein Testament verzeichnet wertvollste Gemälde, Musikinstrumente und Geldsummen von erstaunlichem Umfang. Händels Ehrengrab in der Westminster Abbey zu London, Bachs Leichnam wurde erst 1950 in die Thomaskirche zu Leipzig überführt.
Der Schüler soll den Ausspruch Bachs deuten: „Ich möchte der Händel sein, wenn ich nicht der Bach wäre.“
Zweitens: Ebenso ein Vergleich Tschaikowski und Dvořák. Beide 1840 geboren, die letzten Sinfonien beider wurden 1893 uraufgeführt. Tschaikowskis „Pathétique“ in tiefster Verzweiflung (der letzte Satz „adagio lamentoso“), neun Tage nach der Uraufführung starb er an Cholera durch den selbstverschuldeten Genuss nicht abgekochten Wassers. Dvořák dagegen im einzigartigen Siegestaumel voller Begeisterung für Amerika mit seiner Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ (der letzte Satz, „allegro con fuoco“).
Der Schüler kann aus den Biographien Gründe finden, die seiner Meinung nach zu diesen extrem auseinanderliegenden Sinfonien geführt haben.
Drittens: Eine Auflistung der Uraufführungen des Jahres 1928 bringt eine Vielfalt unterschiedlichster Genre hervor. Diese nur zu benennen und zu bestaunen ist schon eine besondere Tat. Die Herkunft der Komponisten und ihren weiteren Lebensweg könnte der Schüler nach seinen Erkenntnissen beleuchten. Werke von Brecht/Weill (Dreigroschenoper), Ravel (Bolero), Rachmaninoff (4. Klavierkonzert), Bartòk (4. Streichquartett), Gershwin (Amerikaner in Paris), Schönberg (Variationen für Orchester op.31) können unterschiedlicher kaum sein.
Insgesamt ergeben sichfolgende Schlussfolgerungen:
Der Schüler wird mit Problemen konfrontiert und nicht mit etwaigen Lösungen, die auch von Musikwissenschaftlern unterschiedlichster Kaliber unterschiedlich ausfallen. Der Schüler ist mit seinen Erkenntnissen ein Teil dieser Unterschiedlichkeit. Er bietet eine Lösung an, mag sie unfertig oder gar falsch sein, es ist seine Sicht, sie beruht auf Tatsachen, die ihm vermittelt wurden und mit Hilfe des Lehrers kann er unter Einbeziehung neuer Tatsachen seine Erkenntnisse erweitern und verändern.
Ich möchte mit den Beispielen aufzeigen, wie der Schüler allein, selbstbewusst in die Welt der Weisheit einbezogen wird, und wenn es gut gemacht wird, er den Unterricht als den für ihn bestimmten betrachtet. Es wäre von großem Nutzen, darüber zu diskutieren, wie das auf andere Fachgebiete übertragen werden kann, vielleicht auch darüber, wie eine gewisse Garantie für das Gelingen erreicht werden kann.
Hier ist Fingerspitzengefühl vom Lehrer gefragt. Sicher ist in den Lehrbüchern manches nachzulesen und sicher ist das Wissen, das ihm die Universität vermittelt hat, ebenfalls von Bedeutung. Aber im konkreten Fall (konkrete Zeit, konkrete Schüler, konkreter Stoff) muss der Lehrer entscheiden, er muss angesichts dieser konkreten Situation selbst entscheiden. Er muss erkennen, und das in kürzester Zeit, ob sein vorbereiteter Plan funktionieren könnte, ob er zu verändern wäre, oder ob er über den Haufen zu werfen wäre.
Nach meiner Unterrichtserfahrung gilt für gelingenden Unterricht am häufigsten Letzteres.
Schlagwörter: Bildungswesen, Musikgeschichte, Peter Jarchow, Unterricht, Zweifel