26. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2023

Rette sich, wer es noch kann

von Doris Hauschke

Ein schmerzhaftes gesundheitliches Übel hielt mich seit Tagen in seinen erbarmungslosen Klauen. Hausmittelchen, Wärmflasche, Ruhe, Tees, Ibu 600 viermal täglich brachten keine Besserung oder gar Heilung. Im Gegenteil. Also doch zum Doc? Es half alles nichts. Und die Tortur begann erst richtig.

Die liebe Hausärztin ist also im Urlaub, ausgerechnet, ihre Vertretung hat an diesem Wochentag, an dem ich und sicher auch andere Menschen sie dringend brauchten, keine Sprechstunde. Oh Gott. Weiterhin auf menschlichen Zuspruch und medizinische Hilfe hoffend, finde ich mich am Tresen meiner – so denke ich – behandelnden Fachärztin wieder. Aber hallo, das böse Wort „Neupatientin“ weht in mein fiebriges Gesicht. Ich war wohl drei Jahre – wie die Zeit vergeht – nicht in der Sprechstunde. Warum auch, ich war ja nicht krank. Bis heute. Aber kein Erbarmen, nirgends, schon gar nicht hinter diesem Tresen. Gelinde Verzweiflung steigt auf.

Also zum entsprechenden Facharzt meines Ehemannes. Nur, auch dieser Doc war im wohlverdienten Urlaub, der Glückliche. Keine Vertretung. Ich telefoniere mit zwei weiteren Arztpraxen, die ich als Frau regelmäßig aufsuche bzw. aufsuchte. Nette Telefonstimmen geben mehr oder weniger mitfühlend die niederschmetternde Auskunft, sie können leider nichts für mich tun. Bei der Ersten sei das Sprechzimmer und auch sonst alles ganz ganz ganz voll. Der Begriff „Rettungsstelle“ fällt zum ersten Mal. Die Zweite wimmelt ohne Umschweife ab, erklärt sich für sowieso nicht zuständig, und auch, und überhaupt kommen keine Neupatienten rein! Rien ne va plus. Rettungsstelle, das zweite Mal. Die inzwischen tiefe Verzweiflung drängt aus mir heraus. Seit Russland vor anderthalb Jahren den unsäglichen Krieg in der Ukraine anzettelte, habe ich nicht mehr geheult … Was soll ich sagen, sicher ahnen Sie es längst.

Meine Odyssee führte in Ermangelung einer Alternative in die Rettungsstelle eines bekannten Berliner Krankenhauses. Zum Glück ziemlich in der Nähe. Die „Institution“ Rettungsstelle – gibt es ein deprimierenderes Wort im medizinischen Kontext? Ja, doch. Aber geschwächt, mit Schmerzen und nicht ganz klarem Kopf, war ich nun umgeben von bekannten wie gefürchteten Unliebsamkeiten und Zumutungen, die es in Rettungsstellen nunmal zuhauf gibt. Ganz schlimm war die gefühlt unendliche Wartezeit. Jede Menge Menschen mit jeder Menge Wehwehchen, die sich Hilfe erhofften, aber wie ich, viel lieber in einer vertrauten Arztpraxis sitzen würden, wären sie nicht – wie ich – abgewiesen worden.

Ich kam ins Gespräch mit meinen Leidensgenossen, wir hatten viel Zeit und wir waren uns einig: Wird man nur als Privatpatient von vielen, zu vielen, Fachärzten angenommen? Ja, man hat das Gefühl. Das Klagen der professionellen Gesundheitsmenschen über die ständig zu vollen, weil zu Unrecht aufgesuchten Rettungsstellen ohne Not, ist ein Witz mit diesem Hintergrund.

Man könnte lachen, wenn man schmerzfrei lachen könnte.

Aber ich sah mehrheitlich zugewandte Schwestern und Ärzte, die sich alle Mühe gaben, unter der augenscheinlichen Überforderung nicht einzuknicken und das Chaos zu beherrschen. Das tröstete. Irgendwann ging es dann doch ganz schnell und erfreulich gut. Dann stockte es wieder. Der Arztbrief und das Rezept klemmten irgendwo, der Venenzugang musste noch gezogen werden. Nach fast fünf Stunden konnte ich, beinahe wieder mit dem Leben als Kassenpatientin versöhnt, nach Hause gehen.

Ende gut, alles gut? Mitnichten. Ich stellte zu meinem Entsetzen fest, dass man mir ein Antibiotikum mitgegeben hatte, gegen das ich allergisch reagiere. Mich hatte niemand nach bestehenden Allergien gefragt, ich hatte nichts gesagt, mein Kopf war eh seit Stunden leer. Etwa alles zurück auf Anfang? Zurück in die Rettungsstelle. Das durfte nicht wahr sein! Doch es gibt noch Wunder. Ich habe eines erlebt. Das Umtauschen des Medikaments war problemlos und ging ruckzuck. Wenn das kein Wunder ist.

Eins ist klar, der berufliche Alltag der Ärzteschaft wird immer mehr von betriebswirtschaftlichen Vorgaben bestimmt, was sie in Konflikte bei der Versorgung ihrer Patienten treibt. Wirklich alle? Die Bundesärztekammer hat kürzlich ein Thesenprogramm vorgelegt, das eine Debatte über den Umgang mit der steigenden Ökonomisierung der ärztlichen Berufstätigkeit anstoßen soll. Unser Gesundheitssystem ist fühlbar in Schieflage geraten. Die Bundesärztekammer: „Krankenhäuser und ambulante Praxen sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und müssen so betrieben werden, dass ihre Orientierung am Patientenwohl erkennbar wird und erhalten bleibt.“

Bis dahin bloß nicht Neupatientin werden. Man landet womöglich ohne Not in einer Rettungsstelle.