26. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2023

Im Zusammenspiel der Figuren, Formen, Farben – und Phantasie

von Klaus Hammer

In ihrem Sommersalon nimmt uns die Berliner artnow Gallery mit auf eine Zeitreise in die Bilderwelt der klassischen Moderne, die sie gemeinsam mit der Salongalerie „Die Möwe“ veranstaltet. Klassische Moderne ist eigentlich die vage Bezeichnung jener Kunstwicklung in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, die in sich Expressionismus, Kubismus, Surrealismus, Neue Sachlichkeit, Abstraktion und viele andere Kunstströmungen dieser Zeit vereint. Die hochfliegenden geistigen Spannungszustände nach der „Hölle“ des Ersten Weltkrieges ließen sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten. Die Hoffnung, wichtigste Quelle für den Expressionismus, war erloschen. Das leidenschaftliche Gefühl war einer kritischen Nüchternheit, oft erschreckenden Härte gewichen, dem Expressionismus Abstraktion und Neue Sachlichkeit gefolgt. Die Farbintensität des Expressionismus hatte sich mit dem Liniengefüge des Futurismus und den Flächenzerlegungen des Kubismus verbunden. Für die als dekadent angesehene Kunst der Moderne hatten dann die Nationalsozialisten nur tiefe Verachtung übrig und bekämpften sie erbittert, und es war schwer, nach 1945 wieder einen Neuanfang zu finden.

Willy Jaeckel suchte seine Traumata des Ersten Weltkriegs aufzuarbeiten und gestaltete mit altmeisterlicher Präzision seine Akte und die lichtdurchfluteten, gelegentlich ins Abstrakte tendierenden Landschaften. Stellte er aber sonst seine Akte in erotischer Pose dar, hat man bei seinem in kraftvoller Direktheit erscheinenden „Weiblichen Rückenakt“ (Zeichnung, um 1916), der ältesten der ausgestellten Arbeiten, nicht das Gefühl des Ausgezogenen, sondern des schlichtweg Nackten.

Herbert Behrens-Hangeler ging – bei aller Stilheterogenität – seinen eigenen Weg zwischen Gegenständlichem und Abstraktion. Er war der Meinung, dass sich die Musik, die einen besonders starken Einfluss auf ihn ausübte, ganz direkt in Farbabstufungen und Farbwerten, in Wiederholungen und Abwandlungen des Motivs umsetzen ließe („Stillleben: Musik“, 1925). Seine Kompositionen von übereinander geschichteten oder nebeneinander gesetzten Formen, die wie Kartenspiele oder Farbmuster anmuten, stellen den Versuch dar, die Zeit in eine statische Komposition einzufrieren und optischen Motiven den sich entfaltenden Charakter von akustischen zu geben. Dieses Gefühl von Rhythmik, Wiederholung und Entfaltung übertrug sich ganz selbstverständlich auf seine Bilder. Sein Suchen nach Symbolen und Sinnbildern, sein Interesse an Träumen, Mythen und kulturellen Sprüngen, seine kodierte Beschreibung von Gegenständen machen nicht einmal den Versuch einer sinnenhaften Wiedergabe, sondern sagen aufrichtig aus, dass dies rein geistige Bilder sind: Hieroglyphen, die in einem zeichenhaften Raum existieren. Formen, die eine imaginäre, zwischen sehr nah und sehr fern alternierende Bildwelt versinnbildlichen.

Der Stuttgarter Gottfried Graf, der eigentlich als Pionier des modernen Holzschnitts bezeichnet wird, neigte sich in den 1920er Jahren dem Kubismus zu. Der rhythmisch und kubisch bewusste Aufbau seiner Stillleben erfolgt in plastisch gegeneinander absetzenden, Form und Farbe differierenden Flächen. Diese Reduktion auf ausdrucksstarke Grundformen ergibt eine deutliche Entsinnlichung bzw. Intellektualisierung („Komposition“, Gouache, 1921).

Curt Lahs, der 1918 Gründungsmitglied der Künstlergruppe „Das junge Rheinland“ war, interessierte die Umgebung der Figuren und Dinge ebenso stark, er setzte seine nur fragmentarisch zitierten Figuren in ein rhythmisch gegliedertes Raumnetz, das dem kubistischen Raumgitter angenähert ist („Badende“, Zeichnung, 1922). Dagegen schuf Albert Hennig, einer der letzten Bauhausschüler vor dem Bauhaus-Verbot durch die Nazis, Farbholzschnitte in der strengen Formsprache des Bauhauses, im Übergang vom Gegenstand zur freien Form, zur Farbe.

Erich Franke, der dann auch als Bühnenbildner wirkte, erkundete schon in den 1920er Jahren die abstrakte experimentelle Malerei. Noch während seines Studiums in Wiesbaden entstand sein „Stillleben mit Krügen“ (Kohlezeichnung, 1932) in einer expressionistisch-tektonischen Raumauffassung und einer ganz persönlichen Farbgestaltung. Es ist eines der wenigen erhalten gebliebenen Frühwerke, denn sein Wiesbadener Atelier wurde 1944 vernichtet.

Die Bildhauerin Marg Moll hat weibliche Figuren mit bewegter Oberflächenstruktur geschaffen. Ihre wohl um 1930 entstandene prominente „Tänzerin“ wurde beim sensationellen „Skulpturenfund“ vor dem Berliner Roten Rathaus 2010 wiederentdeckt. Statt der kubistischen Körpertektonik, der akzentuierenden Kanten und geometrischen Formen ist sie im Alter wieder zur organischen Form zurückgekehrt. Welch eine Anmut geht von ihrer „Knienden“ (Bronze, 1952) aus, Bewegung wird hier der Vertikale des Körpers durch die Diagonale der verschränkten Arme verliehen.

Nach Abschluss seiner grafischen Zyklen über das zerstörte Dresden hat Wilhelm Rudolph eine Phase durchlaufen, in der er stärker atmosphärischen Erscheinungen und dem modellierenden Spiel des Lichts nachging („Drei Frauen am Strand“, Rohrfederzeichnung auf Holzschnitt, um 1948). Hinter der locker erscheinenden Oberfläche verbirgt sich ein wohlbedachtes, kompositorisches Gerüst. Der andere Dresdener, der experimentierfreudige, in der Nachfolge des Kubismus arbeitende Hans Kinder setzte Bewegungsabläufe in Abstraktion um. Nie verschwindet die Figur aus seinen Arbeiten. Es ist der Moment vor dem Erstarren zur Pose, den er in „Frau umschließt Formen“ (Gouache auf Karton, 70er Jahre) sichtbar macht: Bewegung, Dynamik, Raumrelationen, Zeit.

Als Zeichner und Maler, als Illustrator von Werken der Weltliteratur hat sich der dritte Dresdener, Josef Hegenbarth, international einen Namen gemacht. Seine Bildgegenstände sind Figuren und Szenen aus dem Alltag, auf Straßen und in Vergnügungsparks, in Restaurants, in Konzertsälen, im Theater, im Zirkus und im Zoo. Sein Biograph Fritz Löffler nannte sein Werk „das eines großen Zuschauers des Lebens“. Das als wesentlich Erkannte wird durch sparsamste Akzentuierung, aber auch als Steigerung des Ausdrucks – bis zum Dämonischen oder zur Skurrilität – auf das Papier gebracht. Die Freude an der Bewegung von Mensch und Tier, die in diesem Moment erfassten Gesten, die innere Dramatik der Szenerie, das Groteske, das mitunter ins Karikaturhafte geht, der Kontrast von Einzelperson und Menschengruppe hat ihn immer wieder von Neuem fasziniert.

Anfangs in phantastisch-surrealistischem Stil malend, ging Heinz Trökes um 1950 in Berlin zum Informel über. Leuchtende Farben mit einer reichen Skala von Farbübergängen bestimmen sein Werk. Die Linie gewinnt ihr selbständiges Leben gegenüber den Gegenständen, die jetzt nur noch selten direkt gezeichnet werden, sondern sich aus den Liniengespinsten traumhaft-phantastisch – wie von selbst gesehen – ergeben, neben aller Poesie aber beunruhigend und bedrängend erscheinen („Im Bau“, Tuschzeichnung, 1955).

Die erst in den letzten Jahren wiederentdeckte Berliner Malerin Katja Meirowsky wurde wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis verfolgt, konnte aber noch während ihres Berliner Kunststudiums der „Roten Kapelle“ nahestehende Widerstandskämpfer verstecken. Bei ihr schieben sich in knappem, formreduziertem Stil Innen- und Außenwelt ineinander, so in einer Tusch-Zeichnung von 1949. Dann wieder haben ihre Bilder trotz einer gedämpften Farbigkeit eine unterschwellige Leuchtkraft, kristalline Formelemente wechseln mit schwebenden Gegenständen, wobei die Grenze zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion fließend ist („Bühne“, Gouache, 1958).

Natürlich, die ganz großen Namen der klassischen Moderne fehlen in dieser Ausstellung. Aber dafür werden hier Künstler präsentiert, die der Wiederentdeckung wert bzw. deren ausgestellte Arbeiten kaum bekannt sind – und sie üben in der Tat eine stimulierende Faszination aus. Diese Faszination resultiert zu einem wesentlichen Teil aus dem engagierten Formbewusstsein und der scheinbaren Gefühlskälte des Vortrags, dem wie luftleeren Raum zwischen dem Bild und dem heutigen Betrachter. Diese Bilder sind zwar voller Leben, aber es ist kein Leben, das morphologisch einen Sinn ergibt: sie vermitteln einen Blick auf die Innenseite des Lebens, nicht auf ihre Außenseite, sie geben ein in molekulare Teilchen zerlegtes Bild der Welt. Die Künstler lassen uns die Wortlosigkeit der Figuren und Gegenstände spüren. Aber auch das könnte eben doch ein nicht unwesentliches Charakteristikum für die Kunst jener Zeit sein.

Sommersalon – Kunst der klassischen Moderne, Artnow Gallery, Fasanenstr. 42, 10719 Berlin, Mi-Sa 12-18 Uhr; bis 12. September.