26. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2023

Erstens kommt es anders …

von Jürgen Hauschke

Wer kennt nicht die Fortsetzung, „zweitens als man denkt“. Ein anderer bekannter Spruch von Wilhelm Busch lautet: „Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.“ Das ist allgemeine Lebenserfahrung. So weit, so gut.

Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin oft von der Alternativlosigkeit ihrer Politik gesprochen. Nachdem sich dies häufte, wurde das Wort „alternativlos“ 2010 zum „Unwort des Jahres“ gewählt. In der Jury-Entscheidung der Gesellschaft für deutsche Sprache war zu lesen: „Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art sind 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohen, die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.“

Wenn man es so will, kann man die Namensgebung der vor zehn Jahren gegründeten Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) auch als eine bewusste Anspielung und Antwort auf Merkels Verwendung des Slogans „alternativlos“, insbesondere hinsichtlich der sogenannten Euro-Rettung zu dieser Zeit, verstehen.

Hingegen in ihrer Rede beim offiziellen Festakt zum Tag der Einheit 2021 – einer ihrer letzten als Kanzlerin – betonte Merkel mit Blick auf die Umwälzungen im Herbst 1989 in der DDR, die Freiheit „brach nicht einfach über uns herein“, vielmehr habe sie erkämpft werden müssen. „Wir dürfen nie vergessen, dass es auch anders hätte ausgehen können.“ Die Menschen hätten damals „wahrhaftigen Mut“ gezeigt. Das sinnlose Schlagwort von der Alternativlosigkeit der Politik taucht hier nicht mehr auf.

Geschichte war nie alternativlos, auch wenn es mitunter anders behauptet wird. Diesen Gedanken aufgreifend und Merkels Worte paraphrasierend, bietet das Deutsche Historische Museum bereits seit einigen Monaten eine sehenswerte Ausstellung im Pei-Bau. Das Zeughaus Unter den Linden ist ja bekanntlich noch wegen eines Umbaus geschlossen. Die ursprünglich für den April geplante Begleitpublikation ist vor kurzem verspätet im C.H. Beck Verlag erschienen. Sie trägt den gleichen Titel wie die Ausstellung: „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“.

Im Buch wird Dan Diner, Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem, interviewt. Diner hatte die Idee für die Ausstellung und die Konzeption entwickelt. Er steht der Alfred Landecker Foundation vor, die das Projekt finanziell gefördert hat. Vom „Endpunkt“ des Jahres 1989 ausgehend, schreitet die Geschichtsbetrachtung in der Ausstellung nicht vorwärts – wie üblich –, sondern bewegt sich rückwärts bis zum Jahr 1848/1849. Ausgewählte Zäsuren oder Wendepunkte der deutschen Geschichte werden genauer besichtigt. Die Ausstellung argumentiert gegen die Vorstellungen eines notwendigen Eintretens bestimmter Wendungen im Geschichtsverlauf, im Positiven wie im Negativen. Von zentraler Bedeutung ist für Diner der aus der Philosophie hergeleitete Begriff der Kontigenz. Er umfasst auch die Möglichkeit und gleichzeitige Nichtnotwendigkeit einer Aussage in der Logik. Kontigenz bedeutet so für Diner Zufall, der Eintritt des Unerwarteten. Die Vorstellung einer unwiderstehlichen Zwangsläufigkeit in der Geschichte wird befragt und ein Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit aufgebaut. Das Ziel ist, das Bewusstsein für historische Urteile zu schärfen.

Der Blickwinkel in der Ausstellung wie im Buch führt von der erfolgreichen „Friedlichen Revolution“ 1989 bis zur nicht erfolgreichen bürgerlichen Revolution 1848/1849. Ausgewählt wurden 14 Zäsuren. Einige werden vom Betrachter sofort als einleuchtend begriffen: 1961, 1945, 1933, 1918 oder 1914. Für andere bedarf es eines zweiten, aber immer überzeugenden Blicks: 1972, 1952, 1936, 1929 oder 1866.

In Geschichtsbüchern, respektive in Ausstellungen, sieht man üblicherweise bestenfalls das, was historisch passiert ist. Die Möglichkeiten der historischen Ereignisse, die nicht ergriffen worden sind, kommen zu kurz. Anders in der besuchten Ausstellung in Berlins Mitte und im begleitenden Buch.

Ein Beispiel ist die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Die Nazi-Presse bezeichnete sie als „Wunder“. Sie war zwar herbeigesehnt, aber doch unerwartet eingetreten. Weit verbreiteter war die Annahme, die Reichswehr würde bei der Regierungskrise einschreiten. Die Alternative war ein nationalsozialistischer Führerstaat oder ein autoritär verfasster Staat (Militärdiktatur). Franz von Papen konnte, durch Putschgerüchte geschickt flankiert, Hitler die Macht regelrecht in den Schoß legen, die sogenannte Machtergreifung war nicht alternativlos. Sie war weder zwangsläufig erfolgt, noch war sie ein Betriebsunfall der Geschichte.

Ein anderes Beispiel ist die Möglichkeit einer auf Deutschland abgeworfenen Atombombe. Diner sagt dazu: „Dass der Krieg in Europa früher endete, […] dürfte Deutschland vor der Bombe verschont haben. Und dies dürfte nicht zuletzt auch der […] intakt gebliebenen Brücke von Remagen geschuldet gewesen sein.“ Und weiter. „Hätte sich die Lage auf dem Schlachtfeld anders entwickelt, […] wäre unter Umständen etwa Ludwigshafen zum Zielgebiet eines Atombombenabwurfs auserkoren worden.“ In der Ausstellung kann der Besucher konkret nachvollziehen, warum Ludwigshafen gewählt worden wäre und anhand einer interaktiven „Nukemap“ ermessen, was es konkret für diese Stadt und ihre Bewohner bedeutet hätte. US-Präsident Truman dachte tatsächlich erst an Berlin und dann an den kriegswichtigen IG-Farben-Komplex in Ludwigshafen als Ziel der ersten Atombomben.

Ein besonderes Beispiel ist der 20. Juli 1944. Das Attentat auf Hitler hätte ja durchaus erfolgreich sein können und ist nur wegen eines Zufalls misslungen. Hier werden trotzdem keine Möglichkeiten einer anderen Entwicklung aufgezeigt. Vermutlich hätten die Verschwörer um Stauffenberg den Krieg beendet. Doch zu diesem Zeitpunkt war das, was wir heute als Holocaust bezeichnen, wesentlich vollzogen gewesen. „Aus Gründen historischer Ethik und Moral waren wir gehalten, den ’20. Juli’ mit dem Holocaust zu konfrontieren“, begründet Diner diese Besonderheit.

Die Ereignisse vom Herbst 1989 verdienen als Startpunkt des Rundganges durch die Ausstellung einen besonderen Blick. Zu den friedlichen Protesten wird der demonstrative Schulterschluss der SED-Führung mit der KP Chinas konterkarierend gesetzt. Das Niederschlagen der Proteste auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 wird als mögliche Blaupause für die DDR im Oktober 1989 gesehen. Der schließlich friedlich verlaufende Weg war keineswegs zwangsläufig, wie das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte in Berlin gegen Demonstranten und die „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ der NVA zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung beispielhaft zeigen.

Insgesamt auffallend war bei meinem Besuch die große Zahl junger Besucher. Es waren vornehmlich geführte Gruppen Jugendlicher. Die Antworten auf die Fragen der museumspädagogischen Betreuer zeugten oft von außerordentlichem Bedarf an historischer Basisbildung. Ob man diese mit einem Ausstellungsrundgang erwirbt, ist fraglich. Schaden kann es natürlich keinesfalls.

Eine extra entwickelte und in einem Zusatzraum aufgebaute „Gamestation“ mit dem Titel „Herbst 89 – Auf den Strassen von Leipzig“ lädt die vornehmlich jugendlichen Nutzer dazu ein, „in einer interaktiven Graphic Novel in die Rolle unterschiedlicher Akteure zu schlüpfen und aus deren Perspektive die friedlichen Proteste vom 9. Oktober 1989 in Leipzig zu erleben“. Die sieben Charaktere sind Umweltaktivist, Krankenschwester, Lehrerin, Grafikerin, Bereitschaftspolizist, Dirigent (Kurt) und SED-Politiker (Egon). Die Frage des Spiels, das auch online genutzt werden kann, ist: „Wird es gelingen, den Tag friedlich zu halten?“ Ich habe nach kurzen Versuchen das Spiel als für mich ungeeignet beurteilt und abgebrochen. Es war mir zu eindimensional.

Ausgesprochen spannend und empfehlenswert in der Ausstellung empfand ich jedoch eine Videoinstallation. Gezeigt wird ein experimentelles Filmprojekt von 1968. Studenten der Freien Universität tragen in einer Art Staffellauf durch den laufenden Verkehr eine rote Fahne durch die Westberliner Stadtteile Steglitz, Friedenau und Schöneberg. Zielpunkt ist das Rathaus Schöneberg, der Sitz des Regierenden Bürgermeister (West-)Berlins. Auf dem „Kennedy-Balkon“ wird die rote Fahne am Ende angebracht. Entstanden ist der Film übrigens im Kameraseminar von Michael Ballhaus, Kameramann von Rainer Werner Fassbinder und später in Hollywood reüssierend. Der Film ist in Schwarz-Weiß-Grau – mit Ausnahme der roten Fahne – zu sehen.

Fritz Backhaus et al. (Herausgeber): Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können. Deutsche Zäsuren 1989-1848, Stiftung Deutsches Historisches Museum und C.H. Beck, München 2023, 288 Seiten, 28,00 Euro. Die gleichnamige Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, Pei-Bau, täglich bis zum 24. November 2023.