26. Jahrgang | Nummer 17 | 14. August 2023

Ein lettischer Jahrhundertroman

von Wolfgang Brauer

Es gibt Regionen in Europa, die scheinen für viele ferner als manche Stadt oder mancher Strand, die nur durch eine mindestens halbtägige Flugreise zu erreichen sind. Die baltischen Republiken gehören unbedingt dazu, obwohl sie enger mit unserer eigenen Geschichte verbunden sind als gemeinhin angenommen wird. Im Guten wie im Bösen. Merkwürdigerweise überlagert bei uns das Böse vielfach den Versuch einer Annäherung. So richtig will man mit diesen Leuten nichts zu tun haben, die sich scheinbar nationalismusgeschüttelt – wir Deutsche haben’s nötig! – als erste von der Sowjetunion lossagten und dem armen Gorbi einfach mal in die politische Suppe spuckten. Und hatten die nicht so unmenschlich böse Pogrome veranstaltet und beziehen noch immer deutsche Renten für SS-Dienstjahre? Und ausgerechnet diese Balten treiben uns zunehmend in einen Konflikt mit Russland …

Ich erspare mir jetzt, die „Gegenrechnung“ von rechts aufzumachen. Die würde nicht sehr viel freundlicher ausfallen. Das Problem der Litauer, Esten und Letten lässt sich allerdings sehr einfach auf den Punkt bringen. Im Verhältnis zu ihren übermächtigen Nachbarn, den Polen, Deutschen und Russen, bringen sie zahlenmäßig nur wenig auf die Waagschale. Aber sie leben seit Jahrhunderten in einem geografischen Raum, der bei genau diesen großen Mächten, die Schweden wurden von Peter Romanow ausgeschaltet, immer Objekt der geopolitischen Begehrlichkeiten – man darf das auch Machtgier nennen – war und ist. Diese Gegend nimmt eine gewisse Schlüsselstellung Richtung Osten ein. In die Daugava (deutsch: Düna) liefen schon die Wikinger ein, wenn sie sich auf den langen Weg Richtung Byzanz begaben. Zwischen den Mühlsteinen der Mächtigen zu überleben ist nicht leicht.

Aber mit der historischen Wahrheit ist es so ein Ding. Jeder hat seine, das war und ist immer interessenabhängig. Und keine Muse wird in Permanenz so zur Hure gemacht wie Clio. „Die Wahrheit mag hundert Arme oder Beine haben, doch auf zwei Bäume gleichzeitig klettern kann sie ebenso wenig wie ein Mensch.“ Der das sagt, heißt Paulis Vējagals, und er sagt es beim Bier im Krug von Zunte, einer fiktiven lettischen Hafenstadt, die vom steten Auf und Ab der Geschichte ziemlich gebeutelt wurde. Paulis – der am Ende seines Lebens einen legendären Kampf mit dem Blitz ausficht – ist einer der Söhne von Augusts und Antonija. Augusts, der förmlich im Boden wurzelnde Bauer, wiederum ist der Bruder von Noass, dem Seefahrer und Kaufmann, dem sagenhafter Reichtum nachgesagt wurde und der doch alles, also fast alles, verlor. Bis auf sein nie aufgefundenes Gold, das er angeblich in einem Bein seines Bettes deponierte. Leontine wird es ihr halbes Leben lang suchen. Aller Stammeltern sind Libis und Trine. Libis selbst ist der Nachkomme von Ansis Vējagals, einem am Ende des Nordischen Krieges seinem Gutsherren entlaufenen Leibeigenen. Noass und Augusts selbst werden die Ahnen einer weit verzweigten Sippe, deren Zweige es bis nach Mexico und in Stalins Gulag verschlägt. Um die politische Spannweite deutlich zu machen: Von denen wird einer ein großer bolschewistischer Revolutionär und endet auf ungeklärte Weise in Moskau, ein anderer wiederum mutiert zum Gehilfen der deutschen Judenmörder und flüchtet auf wundersamem Wege noch während des Krieges über das Meer, weil er das viele Blut nicht mehr ertragen kann.

Sie alle sind Protagonisten von Zigmunds Skujiņš’ Roman „Das Bett mit dem goldenen Bein“. Skujiņš, der Nestor der lettischen Literatur, erlebte die deutschsprachige Erstausgabe seines bereits 1984 in Riga erschienenen Romans nicht mehr. Er starb 95-jährig im März 2022.

Es gibt Kollegen, die bezeichnen diesen Roman als lettischen „Buddenbrooks“. Ja, es ist eine groß angelegte Familiengeschichte, aber nichts ist falscher als diese Gleichsetzung. Der Autor erzählt nicht den Niedergang einer Familie, er singt einen Hymnus vom Überlebenswillen und der Widerstandskraft der Vējagali über zwei Jahrhunderte hinweg. So mancher seiner Helden scheitert, wird von den Roten oder den Weißen erschossen, resigniert oder triumphiert noch im Tode. Aber letztendlich behauptet sich diese weit verzweigte Sippe. Das Schicksal der Vējagali steht bei Zigmunds Skujiņš gewissermaßen exemplarisch für die Geschichte seines Volkes. Wer mehr von unseren lettischen Nachbarn verstehen möchte, als es die kärglich bestellte Historiografie und die sehr vordergründigen Zwecken dienende politische Publizistik derzeit ermöglichen, der sollte zu diesem Buch greifen.

Der Autor erzählt die „große Geschichte“ von unten, aus der Sicht derer, die regelmäßig die Zeche der Großkopfeten bezahlen müssen. Man muss sich ein wenig Zeit beim Lesen nehmen, Skujiņš knüpft aus der Fülle der Einzelschicksale einen sehr kunstvollen Teppich. Ich selbst musste auch gelegentlich zur „Ahnentafel“ zurückblättern, die Skaidrīte Vējagal, Paulis’ Tochter, angefertigt hatte.

Apropos Skaidrīte: Eine Gemeinsamkeit mit „Buddenbrooks“ gibt es wirklich. Das sind die starken Frauen: Elizabete und Antonija zum Beispiel, Marta und Leontine und natürlich Elvira, die so schnell verging. Übrigens ist auch die Übersetzung Frauenwerk. Nicole Nau wurde für diese Leistung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 in der Kategorie Übersetzung vollkommen zu Recht nominiert. Dass die deutsche Lektüre dieses vom Verlag vorzüglich ausgestatteten Jahrhundertbuches ein Genuss ist, ist auch ihr zu danken. Zigmunds Skujiņš hat sich mit seinem Buch in die große europäische Erzähltradition eingereiht, an deren Beginn Miguel de Cervantes Saavedra steht. So etwas in eine andere Sprache zu bringen ist verteufelt schwer.

Ach so, Noass’ Gold wird am Ende gefunden. Auf Cervantes-Skujiņšsche Art. Es war nie verschwunden … Aber mehr sag ich jetzt nicht.

Zigmunds Skujiņš: Das Bett mit dem goldenen Bein. Legende einer Familie. Aus dem Lettischen von Nicole Nau, mareverlag, Hamburg 2022, 608 Seiten im Schuber, 48,00 Euro.