26. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2023

Ach, diese Reußen – einst und jetzt

von Detlef Jena

Ein altes geflügeltes Wort geistert nachhaltig durch Thüringens Gaue: „Ist er auch kein Feiner, so ist er doch ein Schleiz-, Greiz-, Lobensteiner.“ Ein parodistisches Aperçu auf die unendliche Zahl der Fürsten Reuß mit dem urdeutschen Vornamen Heinrich im bayrisch-sächsisch-vogtländisch-thüringischen Grenzland. Oft standen die Reußen unter den Vornehmen des Reichs, aber nie in deren erster Reihe. Der Stachel sitzt tief!

O, wenn sich doch endlich einmal eines der vielen deutschen Umfragen-Institute, die einander tagtäglich überbieten und so herrlich darauf spezialisiert sind, die Demokratie nach eigenen Marktinteressen zu vernebeln, herausfinden würde, wie zufrieden die Deutschen mit der Monarchie wären, wenn sie diese nur hätten.

Etwa so: Unter 2.000 repräsentativ ausgewählten Bürgern Mecklenburg-Vorpommerns wollen 49% die Monarchie zurückhaben – davon 21% einen König, 8% einen Sultan, 14% Roland Kaiser, der Rest wollte sich nicht festlegen, favorisierte jedoch meistens den eigenen Familienvater. Unter den Königstreuen sprachen sich 51% für einen bayrischen Monarchen, 10% für Napoleon und 3% für einen Reußen aus. Eine Sonderstellung nahmen die befragten SPD-Mitglieder ein. Sie wollten erst die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung abwarten, die für den Vorstand nicht bindend sind – aber eine Anleitung zum Handeln für ein politisches Ziel, das die Partei gar nicht erreichen soll. Ehrlich, das ermuntert selbst die noch lebenden Reußen. Nun ja, das deutsche Volk erträgt jeden Tag kommerziell determinierte Umfragen über seine Zufriedenheit mit allen Lebenslagen. Doch das sieht es gerade gar nicht gut aus.

Warum sollten die rezenten Reußen da eine Ausnahme bilden? Bereits 1805 wollten sie nicht im Taumeln des aus Frankreich heranrasenden Wirbelsturms untergehen und ihre Position als Reichsfürsten über die Krise der Nation retten. Das kostete jedoch sehr viel Geld und Napoleon kannte keine Gnade mit den kleinen Fürsten. Nach 1806 mussten Kontributionen an den Rheinbund gezahlt werden. 450 Soldaten hatte Reuß zu stellen. Ein Stadtbrand rief in Greiz zusätzliche Verwüstungen hervor. 1808 war die Reußische Bank zahlungsunfähig. Die fürstlichen Kammer- und Schatullfinanzen gingen zu Ende. Es drohte der vollständige Ruin und der Absturz in die Bedeutungslosigkeit. Doch wo ein Wille ist, steht bekanntlich auch ein Reuß mit eigenen staatspolitischen Visionen!

Der damalige Fürst Heinrich XIII. Reuß musste wohl oder übel eine Beratung (Deputation) der Landstände einberufen. Nur ein Kredit der Landstände konnte ihn noch retten. Im Februar 1809 bereitete eine Konferenz der Stände Obergreiz, Untergreiz und Burgk die Deputation vor und erklärte, dass die Finanzpolitik des Fürsten die „Grundfesten der Staatsverfassung erschüttert“ hat, so dass „in gewisser Hinsicht neue Formen geschaffen werden müssen, um den Staat vor gleichen Unfällen zu sichern“. In der Endkonsequenz erging für die ältere Linie Reuß bereits im März 1809 eine ständische Verfassung. Aus der Not entstand eine Tugend zum Wohle künftiger demokratischer Verfassungen. In Weimar – bei Goethe, aber ohne ihn – wurde die erste Konstitution im September 1809 noch als ein Geheimpapier verabschiedet, das niemand kennen durfte – ein halbes Jahr nach der Konstitution im Reußischen Ostthüringen! War da eine deutsche Revolution im Anmarsch?

Die Stände im Reußenland verlangten für die Übernahme der Schulden des Fürstenhauses selbstverständlich umfassende Kontrollrechte über das gesamte Finanzwesen des Fürsten: eines der Grundrechte jeder modernen parlamentarisch verfassten Staatsordnung. Das schien damals ungeheuerlich. Nicht nur die Ritterschaft (es gab allerdings nur die eine ritterschaftliche Familie von Geldern im Fürstentum), sondern auch die biederen Stadträte von Greiz und Zeulenroda durften nun über den Haushalt des Fürsten wachen. Dieser Verfassungsvertrag zwischen Fürst und Ständen hielt länger als ein halbes Jahrhundert, besaß jedoch keine durchgreifende Vorbildfunktion, weder für die bunte thüringische Staatenwelt, noch für den Deutschen Bund. Doch das Haus Reuß schrieb auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat Geschichte. Eine kleine Geschichte, denn die Deputation hatte einen Haken.

Während andere Verfassungsfreunde in benachbarten Bundesländern bald nach 1809 den aus der Finanznot geborenen Bund zwischen Fürst und Ständen für Konstitutionen mit modernen Bürger- und Menschenrechten nutzten, kam es den wackeren Räten im Reußenland nicht in den Sinn, ihren Verfassungsvorlauf für eine Reformierung des Staatswesens zu nutzen. Statt durchgreifender Modernisierung dominierte die kleine Verwaltungsmaßnahme, deren einziges Ziel im direkten Abbau des Schuldenberges bestand. Die Zivilbeamten mussten fortan eine Uniform tragen, die sie natürlich selbst anschaffen und bezahlen durften. In das Fürstentum eingeführte Waren, vor allem Textilien, belegte man mit höheren Importzöllen. Menschen mit geringerem Vermögen durften nicht mehr uneingeschränkt heiraten. Es erging ein Verbot, landesfremde Handwerker im Fürstentum auszubilden. Damit die Leute ihren Ärger nicht übermäßig im Suff verklärten, belegte man die Gast- und Schankwirtschaften mit hohen Abgaben.

Einen opferreichen tiefen Einschnitt in die thüringischen Volksgewohnheiten brachten die Verbote für traditionelle Volksbräuche mit sich. Aus den herrschaftlichen Wäldern durften die Sassen nicht mehr kostenlos Holz für die eigene warme Stube abfahren. Das damals bereits überquellende Unmaß an Volksfesten, Märkten oder Ritterspielen musste auf eine „angemessene“ Zahl reduziert werden. Billardzimmer und „Cafetiers“ wurden geschlossen. Das Volk im Fürstentum Reuß sollte zu alter Sittenstrenge und vor allem zur Sparsamkeit angehalten werden.

Kurz: der aus finanzieller Misswirtschaft oder Not geborene Zwang des Fürstenhauses zu einem Verfassungsvertrag mit den Ständen führte zur Konstitution, die gleichzeitig ein Instrument des Krisenmanagements für eine Finanz- und Wirtschaftskrise war, deren Kosten letztlich das Volk zu tragen hatte. Und außerdem: Vom Fürsten und seinen Ständen ging eine Verbotspolitik aus, die sich tief in die deutsche Geschichte eingegraben hat.

Dieser Vorwurf richtet sich heutigentags in ganzer Breite gegen die „Grünen“, ist jedoch ein Ausdruck für den Unwillen vieler Menschen, eine Bundespolitik zu stützen, die die strukturelle Krise der kapitalistischen Marktwirtschaft auch noch zur moralischen Tugend erhebt. Der Ruf nach politischer Führungsstärke wird auch in den Massenmedien immer lauter. Für deutsche Verhältnisse ist es nicht ungewöhnlich, dass da auch ein Prinz Heinrich XIII. Reuß auf dem politischen Schlachtfeld auftaucht. Man mag ihn des Staatsstreichs, der Verschwörungstheorien oder eines Rechtsextremismus anklagen. Die tiefe Spaltung in der Gesellschaft wird dadurch nur noch tiefer.

Der wahre Grund für das deutsche politische Dilemma liegt in der Krise der Parteien selbst, die sich als Krisenmanager empfehlen, aber von einer Fehlentscheidung in die nächste tappen, im Krieg wie im Frieden. Dazu kommt die deutsche Spezifik, die es Populisten jeder Couleur besonders leicht macht, Anhänger zu gewinnen: der tagtägliche Vollzug des Beitritts zum Grundgesetz hat allzu vielen Ostdeutschen vor Augen geführt, dass der Artikel über die unantastbare Würde des Menschen für sie nicht gilt. Doch damit hatte Heinrich XIII. Prinz Reuß nun wahrlich nichts zu tun. So sind nun einmal die Gesetze der Marktwirtschaft.