Der NATO-Gipfel in Vilnius am 11. und 12. Juli 2023 war bereits im Vorfeld mit erwarteter Bedeutsamkeit aufgeladen worden. Es war der dritte seit Beginn des russischen Krieges in der Ukraine – 2022 gab es am 24. März einen außerordentlichen Gipfel in Brüssel, der eine Verstärkung der NATO-Kampfkräfte an der „Ostflanke“ des Bündnisses beschloss, und den planmäßigen Gipfel in Madrid (28.-30. Juni). Zudem fand er in der Nähe des Kriegsgeschehens und Russlands statt und er war der erste in Litauen.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij hatte eigentlich durchblicken lassen, er werde nur kommen, wenn es eine Einladung gibt, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird. Einige osteuropäische Staaten hatten ihm offenbar signalisiert, für eine definitive Entscheidung eintreten zu wollen. Am Ende war er doch auf dem Gipfel.
Zugleich hat Selenskij seit Wochen das Problem, dass die seit Monaten groß angekündigte Offensive zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete nicht so richtig vorankommt. Die Verluste sind hoch, an Soldaten und offensichtlich auch an der als so überlegen gepriesenen westlichen Kriegstechnik, die Gebietsgewinne aber gering. So ließ Selenskij kurz vor dem Gipfel Bilder produzieren, die Sieghaftigkeit ausdrücken sollten. Er war auf der Schlangeninsel im Schwarzen Meer, um die im vergangenen Jahr heftig gekämpft worden war, die erst von russischen Soldaten erobert und dann von ukrainischen zurückerobert wurde. Das deutsche Fernsehen zeigte am 9. Juli Bilder, wie er dort Kränze ins Meer ließ, um der Opfer zu gedenken. Dann besuchte er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und brachte mit seinem Flugzeug ukrainische Offiziere mit zurück nach Kiew. Die waren im vergangenen Jahr an der wochenlangen Verteidigung von Asow-Stahl in Mariupol beteiligt, gerieten dort in russische Kriegsgefangenschaft, wurden dann ausgetauscht und sollten eigentlich bis zum Ende des Krieges in der Türkei bleiben. So machte Selenskij symbolische Politik mit Bildern von 2022, weil die aktuellen das nicht hergeben.
Erdoğan hatte damit „den Kreml düpiert“, wie es in deutschen Medien hieß. Da war aber noch nicht klar, was er dafür bekommen hatte. Zunächst einmal behält Erdoğan seine eigenständige Position. Die Türkei beteiligt sich auch weiterhin nicht an den westlichen Sanktionen und macht mit Russland gute Geschäfte. Außerdem hat die Türkei sich zu dem BRICS-Gipfel angemeldet, der vom 22. bis 24. August 2023 in Südafrika stattfindet.
Jetzt machte Erdoğan zum NATO-Gipfel seine eigene Symbolpolitik. Zunächst blockierte er weiter den NATO-Beitritt Schwedens, bis dieses schließlich seine innere Gesetzgebung so weit verändert hatte, dass das Land nun kein sicherer Ort mehr für kurdische Organisationen sein kann, die für mehr Rechte ihres Volkes kämpfen. Da spielte es dann auch keine Rolle mehr, dass erneut schwedische Rechtsextreme öffentlich den Koran verbrannt hatten. Statt dessen forderte die Türkei eine Verbindung zum EU-Antrag der Türkei. Immerhin hat das Land einen Assoziierungsvertrag mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahre 1963 und hat seinen Aufnahmeantrag 1987 gestellt. Damit war die Frage des EU-Beitritts wieder auf dem Tisch, auch wenn es keine direkte Verbindung zwischen dem NATO-Beitritt Schwedens und dem EU-Beitritt der Türkei geben konnte. Zugleich stimmten die USA der Lieferung von 40 F-16-Kampfflugzeugen an die Türkei zu. Die hatten die USA jahrelang blockiert, weil die Türkei russische Luftabwehrraketen vom Typ S-400 gekauft hatte. Jetzt hieß es offiziell, die F-16-Lieferung liege im „nationalen Interesse“ der USA, sei aber „nicht Teil des Schweden-Deals“. Allerdings hat Erdoğan nur zugestimmt, dem türkischen Parlament die Vorlage zum NATO-Beitritt Schwedens zuzuleiten. Dass dieses das tatsächlich beschließt, dürfte vom fortgesetzten Wohlverhalten des Westens abhängen.
Auch die USA und die anderen einflussreichen NATO-Staaten, darunter Deutschland, machten ihre Symbolpolitik. Im Kommuniqué des Vilnius-Gipfels heißt es unter Punkt 10: „Wir bekräftigen unsere unerschütterliche Solidarität mit der Regierung und dem Volk der Ukraine bei der heldenhaften Verteidigung ihrer Nation, ihres Landes und unserer gemeinsamen Werte.“ Und unter Punkt 11: „Die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO. Wir bekräftigen unsere auf dem Gipfeltreffen 2008 in Bukarest gegebene Zusage, dass die Ukraine Mitglied der NATO werden wird.“ Das war alles mögliche, aber nicht das, was Selenskij erstrebt hatte.
Wiktorija Wdowytschenko, Dozentin für Internationale Politik in Kiew, schrieb dazu: „ Leider gab es bei der Nato-Mitgliedschaft kein Wunder. Bisher hat die Nato unseren Wunsch, dem Bündnis beizutreten, als eine Einladung zum Krieg aufgefasst. Und die wichtigsten Nato-Länder, die Vereinigten Staaten und Deutschland, sind dazu definitiv nicht bereit. Auf dem Gipfel von Vilnius wurden einige wirklich bahnbrechende Entscheidungen getroffen – sowohl über die Mitgliedschaft Schwedens als auch über die Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Die Ukraine erhielt jedoch nur erstaunlich vage Formulierungen zu ihren Beitrittsaussichten.“ Diesem Wunsch nachzukommen wäre die Einladung zum Krieg, in der Konsequenz zum Atomkrieg gewesen. Den zu verhindern hatten auch US-Präsident Biden und Kanzler Scholz ihren Bevölkerungen versprochen.
Tatsächlich hat die NATO noch nie ein Land aufgenommen, das sich in einem Krieg befindet oder offene Grenzprobleme hat. Insofern gilt: „Die Ukraine müsste zunächst ihr Staatsgebiet – inklusive der Krim – komplett zurückerobern, um bei einem NATO-Beitritt nicht umgehend den Bündnisfall auszulösen“ (t-online.de). Hinzu kommen Anforderungen an die innere Verfasstheit des beitretenden Landes hinsichtlich Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung der Korruption.
Am Ende gab es zwei Entscheidungen von mehr als symbolischer Bedeutung. Es wurde ein „NATO-Ukraine-Rat“ eingerichtet, dessen erste Sitzung noch am 12. Juli stattfand und der eine ständige Einrichtung zur engeren militärischen und politischen Abstimmung sein soll. Zugleich hatte Biden zuvor schon die wichtigsten asiatischen Verbündeten des „kollektiven Westens“ nach Vilnius einbestellt, darunter die Ministerpräsidenten von Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan. So hat denn in Vilnius ebenfalls ein Treffen der G7-Gruppe stattgefunden, das beschloss, die Ukraine verstärkt weiter zu unterstützen. Die G7 verfügt zwar nicht über eigene Truppen, aber über Geld, Wirtschaftskraft und militärische Mittel.
„Wir werden nicht nachlassen“, sagte Biden in Vilnius. Russland aber auch nicht, wenn man die Kommentare aus Moskau verfolgt. Nikolaus Busse von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung resümierte: „Das Schicksal der Ukraine entscheidet sich auf dem Schlachtfeld.“ Damit wird fortgesetzt, womit wir es seit nun bald anderthalb Jahren zu tun haben. „Im Westen nichts Neues“, könnte das Resumé von Vilnius auch heißen.
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