26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

Rahel und Charlottengrad

von Wolfgang Brauer

Ich treffe Anette Daugardt in einem kleinen Straßencafé im Kiez zwischen Otto-Suhr-Allee und Bismarckstraße. In dieser Gegend ist die Berliner Schauspielerin zu Hause. Ein Stück weiter weg in der Kantstraße gründeten sie und ihre Freunde das unbehauste KantTheaterBerlin, das derzeit in der Stadt hauptsächlich im Globe Theater und im Theater im Palais gastiert. Aus der Kantstraße wurde sie „gentrifiziert“, wie sie mir erzählt. In Charlottenburg-Wilmersdorf läuft dieser Vertreibungsprozess auf Hochtouren. Aber Daugardt hatte Glück. Es fand sich etwas Passendes ganz in der Nähe, und in den Nebenräumen der Luisenkirche am Gierkeplatz bieten sich Probenmöglichkeiten an. Für darstellende Künstler ist so etwas wie Goldstaub. Wer sich den Spielplan der kleinen Theatertruppe ansieht, wird den Hut ziehen vor dem immensen Fleiß, der dahintersteckt. Und den hohen Grad an Selbstausbeutung, dem sich die von manchen immer noch belächelten „Freien“ unterwerfen, den sieht man nicht.

Anette Daugardt und Schauspieler-Partner Uwe Neumann stellen in der Regel ihre Texte selbst zusammen. Sie pflegen bevorzugt das literarische Kammertheater. Das muss mühsam erarbeitet werden. Da gibt es im Bühnenvertrieb nur wenig Brauchbares. Nicht zuletzt ist es auch eine Kostenfrage. Und ganz wichtig, die Zuschauer müssen dem Geschehen auf der Bühne nicht nur Ohren und Verstand, sondern auch die Herzen öffnen. Dann lassen sich ganz große Entdeckungen machen. Aber was heißt hier Bühne. Es sind kleine Häuser, kleine Spielstätten, in denen den Akteuren das Publikum oftmals mehr als nahe ist. Ein kleiner Patzer – und man kann raus sein aus der Rolle. Und nicht immer kommt sofort der rettende Einfall … Anette Daugardt erzählt aber auch, dass sie diese Nähe zum Publikum schätzt und genau das es sei, was den Wert ihres Berufes ausmache. Ich glaube ihr aufs Wort.

Und sie erzählt mir vom aktuellsten Theaterprojekt des KantTheaterBerlin, einem Stück über Rahel Varnhagen, die „Judenmamsell“, wie Wilhelm von Humboldt sie titulierte. Ja, der große Wilhelm von Humboldt, der marmorne Namenspatron der Uni. Der mit dem Humboldt-Forum, das sich derzeit röchelnd an seinem Gründungsanspruch verhebt. Daugardt hat ein leichtes Vibrieren in der Stimme, wenn sie den Namen nennt. Dabei war der nicht unbedingt ein Antisemit, jedenfalls nicht mehr als andere Lichtgestalten der Berliner Aufklärung. Ehefrau Caroline warf ihm sogar seine Nähe zu jüdischen Persönlichkeiten in einem Brief vom 29. März 1816 als „einzigen Fehler“, den sie von ihm kenne, vor. Im selben Schreiben liest Caroline von Humboldt dem Gatten die Leviten und lässt ihrem Geifer freien Lauf: „[… die Juden in ihrer Gesamtheit, ihrem Schachergeist, ihrem angeborenen Mangel an Mut, der von diesem Schachergeist herrührt, sind ein Flecken der Menschheit“. Sie will die Juden zwar nicht totschlagen, aber „als Juden vertilgen“. Der Kasernenhof solle den Juden bei den jungen Männern austreiben … Ich kannte den Brief bislang nicht, meine Ausgabe der Ehebriefe der Humboldts enthält ihn nicht.

Anette Daugardt hat ihn ausgegraben. Im Sommer 2022 hatte sie für drei Monate ein Recherchestipendium der Senatskulturverwaltung erhalten und wühlte sich durch die Bücherberge der Landesbibliothek. Grund war ihr anhaltender Ärger über die absolute Dominanz der Männer in der Theaterliteratur des 19. Jahrhunderts – nebenbei: trotz Marieluise Fleißer, Yasmina Reza und Elfriede Jelinek macht auch das 20. Jahrhundert keine entschieden bessere Figur. Und sie wurde fündig. Sie fand etliche Schriftstellerinnen, die von der – männlich dominierten – Literaturgeschichtsschreibung mehr oder weniger ins Vergessen gedrückt wurden. Und da geistern sie immer noch herum, trotz gelegentlicher Modewellen, wie sie zum Beispiel Christa Wolf in Sachen Bettina von Arnim auslöste. Wolf ging es um Bettine und eigentlich um die Günderrode – aber hauptsächlich ging es um die Wiederentdeckung und Rehabilitation der deutschen Romantik. Und deren schreibende Herren sahen in den sie umgebenden Frauen doch eher Objekte, billigten ihnen nur in den seltensten Fällen eine künstlerische Subjektrolle zu. Und einer Jüdin erst recht nicht. Die könne „keine große Idee“ haben, meinte Clemens Brentano. Anette Daugardt zitiert solche Sprüche mit großer Empörung.

Bei ihren Recherchen stieß sie auf Rahel Varnhagen – für Heinrich Heine, der Rahel bewunderte, „die geistreichste Frau des Universums“. Daugardt bezeichnet sie als große „Briefstellerin“. Von Rahel sind rund 6000 Briefe überliefert. Diese Frau rang ihr Leben lang nicht nur um Anerkennung, sie gierte nach Wissen, nach Bildung. Offiziell blieb ihr die verwehrt. Daugardt meint, am Beispiel Rahels könne man ermessen, was es heißt, wenn Frauen von Bildung ausgeschlossen sind. Und sie verweist auf die jüngsten Geschehnisse in Afghanistan. Rahel, „die Meisterin des Gesprächs und der Geselligkeit“ erwies sich für Anette Daugardt und Uwe Neumann als der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich die Chancen und die Gründe des Scheiterns der in der napoleonischen Ära auch am preußischen Horizont aufscheinenden Emanzipation der Juden und der Frauen aufblättern lassen.

Das ist spannend und man sollte sich „Rahel – die Wege muss man suchen“ nicht entgehen lassen. Ich bin auf die Fortsetzungen neugierig. In unserem Gespräch fielen noch etliche andere Namen …

Gutes Theater entlässt einen immer klüger, als man es betreten hat.

Theater im Palais; wieder am 23.8. und am 1.10.2023.

*

Wir bleiben in Charlottenburg und wir bleiben im Theater im Palais. Nein wir bleiben nicht in Charlottenburg und wir bleiben nicht im Theater. Wir fahren nach Charlottengrad und flanieren auf dem Nepski-Propekt. Die Füße schmerzen, der Trubel geht uns auf die Nerven – uns wird die „Prager Diele“ am Prager Platz empfohlen. Das ist allerdings in Wilmersdorf, hart an der Grenze zum Bayerischen Viertel Schönebergs. Das Schild „Man spricht deutsch!“ irritiert uns zunächst, aber dann verstehen wir. „Amtssprache“ des Lokals ist Russisch. Ist das nicht Ilja Ehrenburg, der am Tisch gegenüber einer demütig vor ihm Hockenden einen Text diktiert? Und da hinten in der Ecke Vladimir Nabokov, noch nicht berühmt, aber emsig schreibend? Wir sollen ein wenig Geduld haben, flüstert man uns zu. Die Berberowa und Gatte Wladislaw Chodassewitsch wollen sich hier noch mit Maxim Gorki treffen, die beiden seien seit kurzem in der Stadt …

Ja, Berlin war kurz nach Krieg und Revolution so etwas wie die Hauptstadt der russischen Literatur. Jedenfalls der Exilliteratur. Die geflüchteten Politiker spülte es nach Paris, die Wissenschaftler seltsamerweise nach Prag. Diese Städte waren vergleichsweise teuer. Literaten sind meist arme Schlucker, in Deutschland brodelte die Inflation. Auch mit wenigen Devisen konnte man besser leben als mit einem Reichsmark-Bündel in der Brieftasche. Und von Berlin war man selbst mit dem Zug sehr rasch wieder in Petrograd.

Ildiko Bognar hat über dieses russische Berlin ein bemerkenswertes Stück gemacht: „Charlottengrad – ein Stück Russland mitten in Berlin“. Bognar lässt uns in rund 90 Minuten einen Blick in diese Diaspora machen. Charlottengrad blieb unter sich, man hatte so gut wie keine Kontakte zu den Deutschen, darum das erwähnte Schild … Das Ganze beginnt ein wenig behähig, ein wenig Bildungstheater, aber das hält nur wenige Minuten an. Dann entfaltet sich ein breiter Fächer von intellektueller Spritzigkeit, den man in dieser Stadt gar nicht mehr für möglich gehalten hätte. Ach so, wir sind ja in den 1920er-Jahren … Boris Pasternak hat hier seine Schreibblockade überwunden, Nabokov begann hier zu schreiben. Und es gab haufenweise russische Zeitschriften. In Berlin erschienen, erfahren wir, wohl in diesen Jahren mehr russische Bücher als in Russland selbst. Nur leben konnten die Autoren – das überrascht uns nicht – davon in seltensten Fällen. Es fehlte an Käufern.

Nach der Pause wird es ernster. Die Community beginnt ab 1923 rasant zu zerfallen. Der sowjetische Geheimdienst arbeitete zwar langsam, aber er vergaß keinen. Dazu kam der Geldmangel nach dem Ende der Hyperinflation. So manche kehrten nach Russland zurück. Aus Heimweh, wegen der Familie – oder aber weil ihnen eine glänzende Zukunft im Vaterland der Werktätigen versprochen wurde. Genosse Dichter, wir brauchen dich! Keiner brauchte sie. Ach, Marina Zwetajewa, wären Sie doch in Berlin geblieben… Viele endeten im GULAG oder in den Kellern der Lubjanka. Nina Berberowa und Wladislaw Chodassewitsch zogen nach Paris, andere suchten Zuflucht in Amerika. Viele mit gebrochenem Herzen und erloschener Schöpferkraft. Ildiko Bognar erzählt auch die Geschichte einer Literatur der ungeschriebenen Bücher…

Alina Lieske und Carl Martin Spengler schaffen es auf beeindruckende Weise, diese Zeit, diese Dichtung lebendig werden zu lassen. Ute Falkenau gibt Russisches am Piano. Wunderbar!

Ich verlasse das Theater nachdenklich. In Berlin ist derzeit wieder eine russische Exilliteratenszene im Entstehen. Was wird deren Schicksal sein?

Wieder am 20.8., 22.9. und 15.10.2023.