Inzwischen ist es fast fünfundzwanzig Jahre her, dass ich meinen Wohnsitz in Berlin gegen eine Bleibe in Brandenburg eingetauscht habe. Ich brauchte einfach Abstand zu all den gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Umbrüchen, die in der Hauptstadt mit aller Wucht und allen Konflikten kumulierten. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Allerdings war deswegen Berlin nicht aus meinem Leben verschwunden. Meine neue Heimat liegt fünfzig Kilometer vom Alexanderplatz entfernt, und es gibt unter normalen Umständen eine fast optimale Bahnverbindung. So wurde ich zu einem Pendler zwischen den Welten. Mein Wohnort kann kaum typischer durch die Landwirtschaftsgeschichte der letzten hundert Jahre geprägt sein. Wer dem nachspüren will, schaue sich „Im Märzen die Bäuerin“ von Gitta Nickel aus dem Jahre 1971 an. Den Film wird die DEFA-Stiftung zur kommenden Jahreswende als Bonusmaterial ihrer DVD-Box mit dem Lebenswerk Frank Beyers beigeben.
Berlin blieb mein zentraler Anlaufpunkt hinsichtlich der Arbeit im Film- und Medienbereich, im Dorf fand ich Ruhe und Abstand: Gerade noch in der Bertelsmann Repräsentanz Unter den Linden oder der Akademie der Künste am Pariser Platz und wenig später in dörflicher Stille, in einer Sitzung der Gemeindevertretung oder am Stammtisch des Gasthofs „Zur Ostbahn“. Ich empfand das immer als ungemein inspirierend und damit als ein besonderes Privileg.
Gab ich mich nicht allzu besserwisserisch, waren meine beruflichen Erfahrungen und Erzählungen im dörflichen Umfeld durchaus gefragt. Umgekehrt gab es zahlreiche Sitzungen zu Drehbüchern, Medienprojekten und Digitalisierungsentwicklungen, wo meine direkten sozialen Erfahrungen hinsichtlich des avisierten Publikums als Bereicherung der Diskussion wahrgenommen wurde. Die damit verbundene gegenseitige Offenheit ging nach meiner Beobachtung in den letzten Jahren zunehmend verloren. Heute ist es so, dass ich mich geradezu entschuldigen muss, wenn ich mich mit Meinungen der anderen Seite (vielleicht schon der anderen Barrikade) zu Wort melde. Das Berliner Milieu wittert allenthalben rechtskonservative Rückständigkeit und für die meisten Landmenschen erscheint alles, was überregional politisch oder medial daherkommt schlichtweg als „von oben“ lancierte Gemeinheit, die im alltäglichen Leben nur Probleme bereitet. Insofern bewegt sich mein Dasein zwischen den Welten mehr und mehr vom Privileg weg, hin zu einem Fluch. Der potenzielle Vermittler sitzt plötzlich zwischen den Stühlen.
Wann hat diese Aufspaltung begonnen? Weil Brandenburg im Osten Deutschlands liegt, wäre die einfachste Antwort – die tatsächlich viel zu oft bemüht wird – dass sich hier Nachwehen der DDR-Zeit und der Wendeverwerfungen zeigen. Dies entspricht aber nicht meinen Erfahrungen. Offenheit und Dialogbereitschaft habe ich in den 1990er- und in den Nullerjahren in besonderer Weise wahrgenommen. Natürlich spielte bei meinen neuen Mitbewohnern die DDR-Sozialisation eine Rolle. Doch die wirkte weitgehend dahin, dass man bestimmte Dinge als erhaltenswert empfand und andere Dinge nie mehr erleben wollte. Die Lebenserfahrung im Osten erweist sich, oft unbewusst, als Bereicherung, weil man sein Umfeld auf einmalige Art vergleichend betrachten kann. Zudem muss man nur einmal mediale Vorurteilsprägungen weglassen und sich nach Duisburg, Mannheim oder Bremerhaven begeben. Dort zeigen sich ähnliche Brüche, wie ich sie aktuell in meinem Lebensumfeld beobachte.
Mir kommt in diesem Kontext ein Sommertag im Jahr 2008 in Erinnerung. Damals trat Barak Obama bei seiner Wahlkampftour an der Berliner Siegessäule auf. „Change we can believe in“, war seine zentrale Botschaft, und 200.000 Leute jubelten ihm zu. Ich habe selbst in die leuchtenden Augen von Menschen gesehen, die voller Hoffnung von dieser Kundgebung kamen. Hatten sie nicht an diesem Tag den personifizierten Fortschritt gesehen? Für viele war geradezu ein neuer Messias auferstanden, der sogar einen Werkzeugkasten ursächlich linker kultureller Forderungen bei sich hatte. Umwelt und Klima erschienen ihm wichtig. Damit waren die Themen gesetzt. Man war bereit, dieser vermeintlichen Lichtgestalt zu folgen. Als ganz so selbstlos wie vielleicht erwartet hat sich Obama in seinen acht Regentschaftsjahren dann allerdings nicht gezeigt. Amerika müsse in der Welt immer die Führung behalten, war, – wie bei seinen Vorgängern und Nachfolgern – sein oberstes Credo.
Obamas Fortschrittsgedanke war neben dieser ersten Prämisse zuerst von den Interessen der Tech-Konzerne – und in deren Windschatten denen der Pharmaindustrie – geprägt. Zu deren Unternehmensphilosophie passten einige klassische linke Überzeugungen ziemlich gut. Man wollte weltweit reüssieren. Da störten sowohl rassistisches Denken als auch koloniale Attitüden. Es wurde die individuelle Ansprache gesucht. Was war diesbezüglich intimer als die sexuelle Orientierung? Kleingruppen, die bis dahin um Tolerierung kämpften und in demokratischen Gesellschaften diese auch weitgehend fanden, wurden plötzlich zu zentralen Kulturträgern. Sozial determinierte politische Bewegungen erschienen für die angestrebten Ziele eher störend. Sie gerieten mehr und mehr ins Hintertreffen, was angesichts des gerade krachend gescheiterten kommunistischen Gesellschaftsexperiments relativ leicht zu befördern war.
Diese Aspekte zusammengenommen erschienen dem sich als links verstehenden deutschen Bürgertum geradezu als ideale Handlungsfolie. Die digitale Welt schuf für den, der die Chance zu ergreifen verstand, scheinbar unerschöpfliche Einkommensmöglichkeiten. Gleichzeitig konnte man sich „gut“ fühlen, wenn man multikulturell, gendergerecht und divers handelte. Hinzu kamen Fragen der Gesundheit und des Klimas, wo ebenfalls veränderndes Handeln mehr und mehr erforderlich wurde. Entsprechende Visionen wurden mit hohem moralischem Anspruch entwickelt, und der kulturelle Überbau wandelte sich vehement zu einer entsprechenden Agitationsinstanz. Doch am Ende liegen den propagierten Modellen im Kern, entsprechend der Logik des Kapitalismus, nicht viel mehr als möglichst optimale Geschäftsideen zugrunde. Ob Mobilitätswende, Energiewende oder einer Wende im Gesundheitssystem, alles beschert den Protagonisten satte Extraprofite.
Wo es allerdings Gewinner gibt, da gibt es auch Verlierer. Aktuell ist das neben dem gewöhnlichen Steuerzahler nicht nur hierzulande in erster Linie die öffentliche Daseinsvorsorge. Schulen und Kleinkinderbetreuung, Nahverkehr, Altenpflege, Infrastruktur oder die Hausarztsysteme sind nur einige Beispiele. In den letzten Jahren wurden in Deutschland mehr als 120 öffentliche Bäder geschlossen. Man könnte dem gegenüber ja mal zählen, wieviel private Poolbecken gleichzeitig in Gärten oder auf den Dächern städtischer Nobelviertel entstanden sind. Je mehr diese Widersprüche deutlich werden, desto mehr verwandeln sich die den Wandel ursprünglich inspirierenden edlen Ideen in bornierte Ideologie. Man will ein Konstrukt erhalten, was sich längst als absurd erwiesen hat. Wer seinen Lebensunterhalt mit dem Einbau von Heizungen verdient, merkt das eher als der, der von Berufs wegen darauf achtet, dass die Gebrauchsanleitungen für Wärmepumpen in gendergerechter Sprache verfasst werden.
Währenddessen meine Lokalzeitung im redaktionellen Teil mehr oder weniger unkritisch der aktuellen Politik zum Munde redet, zeigt die Leserbriefseite, was der nüchtern seine eigene Existenz betrachtende Mehrheitsbürger davon hält. Allein am 28. Juni 2023 war in den Kernaussagen etwa zu lesen: Chipfabrik – „Meiner Meinung nach wären die Milliarden in der Bildungspolitik … besser angelegt“, Energieproblem – „Unsere Probleme allein mit Technik und Technologie zu lösen, ist Augenauswischerei“, Klinikreform – „Die Patienten werden nicht weniger, wenn Kliniken geschlossen werden. Es fehlt an Personal, hier sollte die Politik ansetzen.“ Trinkwasserknappheit – „Für Politiker gibt es stets nur einen Lösungsweg, die Steuer- oder Preiserhöhung“, Rüstungsfirma Rheinmetall – „Erschreckend und verstörend ist es, zusehen zu müssen, mit welcher Inbrunst deutsche und europäische Politiker und, sogar in vorderster Front Politikerinnen, sich der Sicherung fremder Interessen (der USA – KDF) zum Schaden der eigenen Völker hingeben.“ Druschba-Öl – „ Hauptsache, unsere Links-Rot-Grünen Politiker haben ein gutes Gefühl, koste es was es wolle, Schluss mit diesem Irrweg. Alle Parteien an den Verhandlungstisch, um diesen Wahnsinn in der Ukraine endlich zu beenden, auch gegen den Willen der USA“, Pflicht zum Heizungstausch – „Auch wenn aus dem Entwurf dann ein Gesetz wird, es bleibt ein dilettantischer Murks für die Tonne.“
So klingt es auch in meinem unmittelbaren Lebensumfeld. Ich kann weder weghören, noch mich hinter Verdrängungsmechanismen verschanzen. Insofern bleibt meine Lebenssituation auch deswegen weiterhin ein Privileg. Ich werde mich jedenfalls nicht wundern, wenn die Ideologieblase mit all ihren Auswüchsen demnächst im Orkus verschwindet, jener über sie angestoßene wirtschaftliche Wandlungsprozess aber munter weiter prosperiert
Schlagwörter: Berliner Milieu, bornierte Ideologie, Brandenburg, Dialogbereitschaft, Extraprofite, Klaus-Dieter Felsmann