26. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2023

Ein Roman von fast allem

von Doris Hauschke

„Warum heiße ich Ida?“, fragt die Protagonistin des Romans als Kind ihren Vater. Aber es geht nicht nur um Ida. Tina Pruschmann erzählt anhand von eindringlich und liebevoll gezeichneten Figuren einschneidende Geschichten aus den letzten einhundert Jahren bis in die ostdeutsche Gegenwart. Der überaus spannende Erzählbogen rankt sich dabei mäandernd um vier Generationen ihrer Familie, um die Vergangenheit und Gegenwart des fiktiven Erzgebirgsortes Tann, um einen untergegangenen Staat, einen neu gegründeten Staat und und und …

Aber von Anfang an: Ida wird in eine bunte Zirkuswelt hineingeboren. Wer wäre das nicht gerne? Für Leser, die schon immer in diese aufregend fremde Welt schauen wollten, ist diese Geschichte eine wahre Fundgrube. Eine Trapezkünstlerin als Mutter, der Vater ein Dompteur. Ihre Eltern sind großartige und bekannte Artisten des Staatszirkus der DDR, richtige Stars; so bekannt, dass es sogar eine eigene Briefmarke von ihnen gibt. Dieser Zirkus kann durch die Welt reisen, ist immer auf Wanderschaft. USA, Europa – die Eltern waren fast überall. So reist auch die kleine Ida mit in die Ukraine und freundet sich dort mit einer Tierarztfamilie an. Als Artistenkind wächst sie in dieser schillernden Welt auf, mit den prächtigen Kostümen, den geschmückten Wagen, den Tieren, den  Clowns und Artisten, in der nach frischen Sägespänen duftenden Arena. Sie liebt das Winterquartier vor den östlichen Toren Berlins. Sie kennt nichts anderes. Das bunte Leben im Zirkus hat mit dem real existierenden Sozialismus nicht viel zu tun. Der Traum, als Trapezkünstlerin durch die Zirkuskuppeln der Welt zu fliegen, ist aber vor allem der Traum ihrer Mutter und endet jäh nach einer dramatischen Situation, die Ida am Trapez herbeiführt. Denn trotz ihres geliebten, mit Strass bestickten Kinder-Trikots und der angeklebten Papierflügel kann die kleine Ida nicht fliegen. Und eigentlich fühlt sie sich unbändig zu den Elefanten des Vaters hingezogen. Mit der imposanten Elefantendame Judy und dem Elefantenmädchen Hollerbusch, das zufälligerweise am gleichen Tag wie sie geboren wurde, verbindet Ida eine vorbehaltlose Freundschaft und eine intuitive Sprache – das Anschnurren. Sie übt mit Begeisterung kleine Kunststücke mit ihren Seelentieren ein, die sie mit Hilfe und zur Freude des Vaters in der Manege vorführt, und mit denen sie erste Erfolgsmomente erlebt. Ida, die Elefantenschnurrerin?

Als sie alt genug ist, eingeschult zu werden, entscheiden ihre Eltern, sie nicht in die „Zirkusschule“ zu schicken. Sie meinen, eine Schule, in der der Lehrer mit den Schülern lieber durch die Tourneestädte streift, statt Lesen, Schreiben, Rechnen zu lehren, ist gar keine richtige Schule. Ida soll eine ordentliche Schulbildung erhalten und darum im erzgebirgischen Tann bei den Großeltern leben. Ida muss ihre Zirkuswelt, die Eltern und ihre geliebten Elefanten verlassen.

Tann, ein öder Ort, der auch schon mal glitzerndere Tage hatte, als nämlich vor Zeiten die stärkste Radonquelle der Welt hier entdeckt und zu Therapiezwecken genutzt wurde. Die Geschichte des fiktiven Ortes wird von Tina Pruschmann sehr ausführlich beschrieben und erinnert an Bad Schlema, wo heute wieder Radontherapien angeboten werden. Diese guten Jahre liegen lange zurück, auch wenn die Großmutter sie gerne und ausführlich in ihren Erzählungen heraufbeschwört. Für Ida ist hier nichts glitzernd. In den 80er Jahren erlebt sie tristen grauen DDR-Alltag in einer Bergbaugegend mit viel kaputter Natur. Im Frühling vor ihrer Einschulung bezieht sie im Haus der Großeltern ihr erstes eigenes Zimmer, wenigstens etwas Gutes. Hier hängt nun eine Lichterkette mit dem tröstlichen orangefarbenen Licht, das für Ida schon immer „zu Hause“ bedeutete. Eine hing im Wohnwagen, wenn sie die Eltern auf Tournee begleitete, eine im Wohnheimzimmer, das sie in der Winterpause des Zirkus mit den Eltern bewohnte.

Ihre Großmutter, die „Ohm“, hat eine Kneipe in Tann. Hier treffen sich die Bergleute aus der Uranerzmine, in der sie radioaktives Material für die sowjetische Atomenergie abbauen. Sie treffen sich zum Wegreden und gewaltigen Wegtrinken der allgegenwärtigen Angst vor der Schneeberger Krankheit, dem strahlenbedingten Lungenkrebs. Nebenbei erhält der Leser eine von der Autorin gut recherchierte kleine Bergbaukunde, die einem sicher unter Tage die Augen öffnen wird.

Für Ida ist alles fremd, das Dorf, die Schule, die Mitschüler, für sie, die hier das Zirkuskind bleibt. Sie vermisst ihre Eltern. Aber sie fährt unverdrossen mit ihrem Einrad den meisten Unliebsamkeiten in diesem Lebensabschnitt davon. Sie macht das Abitur, beendet eine ordentliche Schule. Und will Elefantendompteurin werden.

Nach der Wende wird die Mine geschlossen und der Zirkus an einen westdeutschen Investor verscherbelt, der von Zirkusdingen keine Ahnung hat, aber schon immer einen Zirkus haben wollte. Ida muss ihren Traum aufgeben. Sie will ihre Elefanten nicht verlassen und folgt Judy und Hollerbusch, die an den Zoo in Kyjiw verkauft werden, nun als Tierpflegerin in den neu gegründeten Staat Ukraine. Dort will sie sich ein neues Leben aufbauen, das alte hinter sich lassen. Doch die Vergangenheit begleitet sie. Die Eltern trennen sich. Stasigeschichten besiegeln das Ende dieser Ehe. Der kranke Vater lebt jetzt im alten Zirkuswagen auf dem Grundstück der Großmutter in Tann und ertränkt seinen Lebenskummer gründlich im Alkohol.

Ida lebt nun viele Jahre in der befreundeten Tierarztfamilie. Die Jahre in Kyjiw vergehen jedoch zunehmend planlos. Der Tierarzt, der seine Frau durch das Reaktorunglück in Tschernobyl verloren hat, wird ihr Liebhaber. Doch was wird aus Liebe, Freundschaft, Familie, Beruf? Die offenherzigen ukrainischen Menschen, mit denen sie arbeitet, lebt und liebt, haben eigene Probleme in einem Land, das sich im Umbruch befindet. Warum will sie in diesem Land bleiben, das nicht ihres ist, wird sie immer öfter gefragt. Hier hätte sie doch keine Zukunft. Ewig eine Elefantenpflegerin bleiben? Oder nach Deutschland, nach Tann, zurückkehren?

Die Menschen dieser räumlich und zeitlich gewaltige Bögen schwingenden Geschichte sind von Tina Pruschmann präsent und lebensnah gezeichnet. Man wird gefesselt von den vielfältigen Handlungssträngen. Erzählt wird aus der Perspektive verschiedener Romanfiguren. Schwunghaft geschilderte Bilder lassen ein farbenfrohes, spannendes, lustiges und trauriges Kopfkino entstehen. Das Ende der Geschichte ist so überraschend wie mutig, wird hier aber nicht verraten.

In die Danksagung der Autorin nach Abschluss des Romans bricht die nicht-fiktionale Realität ein: „Als ich diesen Text beginne, treffen die ersten russischen Luftschläge die Ukraine […].“

Den seit November 2022 vorliegenden Roman „Bittere Wasser“ von Tina Pruschmann möchte ich jedem ans Herz legen, der sich für Zirkusluft, Drama, Liebe, Leid, für eine einzigartige Familie, die Bergbaugeschichte des Erzgebirges und menschengemachte Geschichtsbrüche und Neuanfänge begeistern lassen will. Von mir gibt es klare Leseempfehlung.

Tina Pruschmann: Bittere Wasser. Roman, Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 287 Seiten, 22,00 Euro.