Das Leben sorgt nicht nur für Trübsinn, sondern gelegentlich auch für ungewollte Komik. Wir merkten es, als wir bei einem Sonntagsausflug mit den sozialen Gegensätzen konfrontiert wurden, die aus Jahrhunderten herrührten und nun, zumindest punktuell, von einigen vernünftigen Zeitgenossinnen und -genossen überwunden worden sind. Die Entdeckung war, wie meist, dem Zufall geschuldet. Wir hatten im Internet ein Konzert in der Dorfkirche zu Glambeck ausgesucht und machten uns auf zur Entdeckungstour in die Schorfheide. Natürlich mit dem Auto, denn Bus und Bahn verkehren in dem abgelegenen Winkel nicht. (Es gibt auch keine Zapfstellen für E-Mobile dort.)
Das Kirchlein, versteckt hinter uralten Bäumen, war kaum als solches auszumachen: ein Fachwerkhaus ohne Turm. Wir fuhren folglich vorbei, stellten dann jedoch das Fahrzeug auf einer ungeschnittenen Wiese ab, wo bereits einige Autos mit Kennzeichen aus der Umgebung im kniehohen Gras parkten, und folgten den Menschen, die augenscheinlich unserem Ziel zustrebten. Wir hatten, was sich als Vorzug erwies, keine Karten vorbestellt, weshalb man uns vor den gefüllten Kirchenbänken, auf denen zu sitzen nirgendwo ein Genuss ist, zwei gepolsterte Stühle stellte. Auf den beiden anderen Logenplätzen neben uns nahm der letzte DDR-Außenminister in braunen Cordhosen Platz. Ihn kannten wohl viele hier: Als vorn neben dem Flügel und vorm Altar einführende Worte gesprochen wurden, fiel zwar sein Name nicht – wohl aber ging auffällig oft ein freundlicher Blick in seine Richtung. Der einstige Theologe und SDP-Mitbegründer wohnt vermutlich noch immer in der Gegend, wo er in einem winzigen Flecken seinen Alterssitz genommen hatte, wie gelegentlich eines bizarren Gerichtsstreits Ende 2007 durch die taz bekannt wurde. Lange her … Vielleicht gehört der inzwischen siebzigjährige Expolitiker dem rührigen Verein Denkmale Glambeck e. V. an, der dieses Haus vorm Untergang bewahrte.
Also das Kirchlein: ein einziger Raum mit winziger Empore und bar einer Orgel, simple Ziegel auf dem Boden und dicke, grob behauene Balken an der Decke, Gestühl für ein reichliches halbes Hundert Menschen, kein Taufstein, keine Kanzel. Errichtet nach dem Dreißigjährigen Krieg, in dem der Vorgängerbau zerstört worden war, als „Arme-Leute-Kirche“. Kein Marmor aus Italien oder Sandstein aus Sachsen, nur Eichen aus der Schorfheide und Lehm aus den hiesigen Sümpfen. Kein kulturhistorisches Kleinod also, erhaltenswert dennoch, weshalb es 1981 unter Denkmalschutz gestellt worden war. Das blauweiße Emailleschild allein hielt den Verfall jedoch nicht auf. In den neunziger Jahren sanierte der Verein die Kirche am Welsetal, und gewiss floss mehr als nur der Segen aus der Landeshauptstadt, denn als am zweiten Tag des neuen Jahrtausends die Wiederweihe vorgenommen wurde, waren sowohl Landesvater Manfred Stolpe als auch Landesbischof Wolfgang Huber zugegen. Ein anderer Sponsor spendete einen Steinweg-Flügel von 1860, auch nicht ganz billig. Und so war die Glambecker Konzertkirche geboren, die mindestens zwölf Mal im Jahr zu musikalischer Unterhaltung lädt. Da ein Fahrrad- und Wanderweg daran vorbeiführt, wurde das Gotteshaus auch flugs zur Fahrradkirche erklärt. Oder wie es draußen an einem Schild heißt: „Offene Wegkirche, sie wird sakral, kulturell und touristisch genutzt.“ Als wenn sich das immer so säuberlich trennen ließe.
Nach dem sehr angenehmen Konzert, das drei Damen am Flügel, mit Violine sowie auf Klarinette und Blockflöte boten, eilten die Zuhörer zu ihren Fahrzeugen oder nahmen nebenan in der Kirchenklause eine Tasse Kaffee mit hausgemachtem Kuchen. Ein schöner Sonntag.
Wir rollten durch die sattgrünen Wälder der Autobahn zu, als uns am Wegesrand ein Turm zum Aufstieg einlud. Ein ehemaliger Wasserturm mit Aussichtsplattform, hieß es. Da die Region UNESCO-Biosphärenreservat ist, brauchte es natürlich einen blumigen Namen fürs Panorama: Biorama.
Der Turm wird von zwei Briten bewohnt, Richard Hurding und Sarah Phillips, die das Objekt entdeckten und erwarben. Objekt deshalb, weil auf dem einstigen Windmühlenberg nicht nur ein Wasserturm vor sich hin rostete, sondern auch eine Villa. Die war damals nur noch eine Ruine. Bis 1989 nutzte sie eine LPG aus dem Bezirk Halle als Betriebs- und Kinderferienlager, danach übernahmen sie die Barbaren. Also die Treuhand als Eigentürmer und die Vandalen. Die britischen Besitzer investierten mindestens eine halbe Millionen Euro, die Hälfte davon aus diversen Fördertöpfen. Nun wohnen die beiden Kreativen auf vier Etagen im Turm, dem man über einen daneben errichteten Lift, um den sich eine Treppe windet, aufs Dach steigen kann. Für vier Euro blickt man ringsum ins Land, bei guter Sicht sieht man noch die Spitze des Berliner Fernsehturms, der etwa 75 Kilometer entfernt ist. Wir sahen ihn nicht. Falsche Brille oder zu viel Ozon. Nun ja, besonders aufregend war der Rundumblick nicht, eben viel Landschaft: Wald, Wasser, Straßen unter blauem Himmel. Wir wollen diese friedlichen Dinge allerdings nicht geringschätzen.
Der Abstecher wurde nun doch zum Erlebnis durch die Villa Protz. Sie heißt wirklich so, denn Rudolf Protz hatte sie ausgangs des 19. Jahrhunderts auf dem Hügel errichten lassen. Der aus Joachimsthal stammende Versicherungsunternehmer wollte hier seinen Lebensabend verbringen. Der dauerte ganze sechs Jahre, denn 1903 verstarb Protz 78-jährig. Zu seinem Vermögen war er durch die Errichtung öffentlicher Toiletten in Berlin gekommen. Geld stinkt bekanntlich nicht. Wohl aber stank die Stadt, deren Magistrat sich jahrelang weigerte, Bedürfnisanstalten zu errichten. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts stellte man endlich und nach Bürgerprotesten („Macht uns für die Pinkelei endlich einen Winkel frei!“) die ersten gusseisernen Pissoirs in Berlin auf. Man nannte sie wegen ihrer Form „Café Achteck“ (vielleicht lieferte diese Bezeichnung die Anregung für den Imbiss zu Füßen des Bioramas: „Café Quadrat“?)
1869 bekam Protz die Erlaubnis, 24 „Vollanstalten“ mit jeweils sechs Wasserklosetts zu errichten, wobei – Auflage des Magistrats – mindestens ein Sitzplatz unentgeltlich benutzt werden durfte. Sein erstes Toilettenhaus mit Wasserspülung und Gasbeleuchtung entstand an der Friedrichstraße/Ecke Unter den Linden. (München, Hamburg, Wien und Karlsbad zogen nach: So kamen einige Taler zusammen.) Der Berliner Volksmund taufte diese nützlichen wie notwendigen Einrichtungen respektlos „Protz-Stationen“ …
Vielleicht sprechen die jetzigen Besitzer des Anwesens auch darum lieber von der „Weißen Villa“ und ungern von der Protz-Villa. Von oben, von der Aussichtsplattform, blickt man auf ein graues Metalldach und eine weiße, schnörkellose Fassade inmitten dichten Grüns, das bis hinüber zum Krummen und zum Grimnitzsee reicht. Und im Gebäude selbst ist erst recht von Protz keine Spur: Der Blick geht ungehindert bis unters Dach, auf den verschiedenen Etagen ragen Türen, von denen der Lack blättert, aus den rohen Ziegelwänden. Vom einstigen Wohnhaus sind nur noch die tragenden, vom Putz befreiten Wände geblieben. Mutig. Und eine irre Idee für ein ungewöhnliches Ausstellungsambiente. Umwelt, Kunst und Wissenschaft intelligent verknüpft, alle Achtung.
Auf dem Fußboden türmen sich nämlich Berge von Granulat aus gemahlenem Kunststoff, an den Wänden Berge aus Eis, fotografiert 2019 vom Österreicher Hannes Seebacher auf und vor Grönland. Die Ausstellung nennt er „Ein Meer des Wandels“. Er will damit Klimaerwärmung und Wasserverschmutzung dokumentieren, denn das geschrotete Plastik ist der Müll aus unseren Meeren. Aber, und das erklärt auch die Sponsorenliste, die Ausstellung zeigt, dass sich Kunststoffe recyceln lassen. So ist Seebachers Installation zugleich ein Appell für eine saubere Kreislaufwirtschaft. Also durchaus im Sinne des Erbauers der Villa, dem ein Raum im Haus gewidmet ist: Aus Abfällen lässt sich Geld machen und zugleich die Umwelt schonen. Das ist nicht Arme-Leute-Politik, sondern vernünftig und nötig.
Draußen glänzt dann doch noch eine Fassade aus Edelstahl-Platten: In diesem Mosaik spiegelt sich die Umgebung. Also die Welt. Es ist die Ostseite der Villa. Aber das ist gewiss Zufall und nicht Absicht.
Informationen zu „Glambecker Claviermusiken“ einschließlich Konzertkarten gibt es auf www.glambecker-claviermusiken.de; Hinweise zur Aussichtsplattform und zur Weißen Villa bei Joachimsthal unter www.biorama-projekt.org
Schlagwörter: Biorama, Glambeck, Jutta Grieser, Rudolf Protz, Schorfheide