26. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2023

Südafrikanische Verhältnisse

von Ulrich van der Heyden

Wer als Tourist im südafrikanischen Herbst, wenn bei uns in Europa der Frühling in den Sommer übergeht, ins Land am Kap reist, wird – wenn er über vorjährige Vergleichsmöglichkeiten verfügt – viele Veränderungen feststellen können. Nach Beendigung der Einschränkungen durch die auch in der Republik Südafrika gewütete COVID-Pandemie, eine Zeit, in der der Tourismus stark zurückgegangen war, erholte sich das Land auf diesem Gebiet anscheinend recht schnell. Die Hotels und Gästehäuser sind gut ausgebucht. Relativ sicher ist man vor dem Virus nun auch, denn hier unter der selbst noch im Mai die Haut stark bräunenden afrikanischen Sonne bewegt man sich den ganzen Tag, oftmals auch während der Mahlzeiten unter freiem Himmel. So können sich Touristen automatisch vor einer Ansteckung ohne große Einschränkungen und zusätzlichen Unannehmlichkeiten schützen.

Wenngleich nach Aufhebung der Pandemie-Bestimmungen wieder Normalität eingezogen ist, berichtet die regionale Presse noch immer über schwere Folgen von COVID-Erkrankungen. So waren im Norden des Landes viele Südafrikaner auf dem Lande und in den traditionellen Dorfgemeinschaften erkrankt und sind verstorben.

Keiner kann die Opfer zählen. Nur wer sich dafür interessiert, wird in Erfahrung bringen, dass nicht nur „einfache“ Menschen auf dem „platten Lande“ der Viruserkrankung erlegen sind, sondern auch eine Reihe von traditionellen Führern und deren Familienangehörige. Einige Führungspersönlichkeiten aus den ethnischen Gruppierungen der BaPedi, der BaVenda, der Ndebele und der BaKopa sowie einiger anderer Ethnien sind verstorben. Zum einen wird in den darauf Bezug nehmenden Gesprächen angeführt, dass die Gründe hierfür in der Tatsache zu suchen sind, dass die medizinische Versorgung auf dem Lande mangelhaft sei, viele Menschen nicht über den Schutz durch Gesichtsmasken aufgeklärt worden sind, an diese nicht herankamen und vor allem – und da stellt die Corona-Pandemie keine Ausnahme dar – sind große Teile der für den Schutz vor dem Virus bereitgestellten Gelder im Sumpf der Korruption verschwunden.

 

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Wer aus Deutschland kommend als Tourist in Südafrika einreist, wird gelesen haben, dass der Staat Südafrika Insolvenz angemeldet hat. Im Alltagsgeschehen merkt man davon recht wenig, denn der Wirtschaft scheint es auf dem ersten Blick gut zu gehen. Die Geschäfte sind voll, immer mehr Wohnungen und Ferienhäuser entstehen an den Küsten der Ozeane für Betuchte, insbesondere aus Großbritannien und Deutschland.

Der größte Teil der schwarzen Bevölkerungsmehrheit kämpft indes tagtäglich ums Überleben – wie schon immer. Für die meisten war der Sieg der ehemaligen Befreiungsorganisation ANC bei den Wahlen 1994 sowie auch in den Jahren danach nicht mit bedeutenden sozialen Verbesserungen verbunden. Im Gegenteil, klagen viele, deren Hoffnungen auf eine von dem ersten schwarzen Präsidenten des Landes, Nelson Mandela, verkündete Schaffung einer „Regenbogennation“ zerstoben sind. Denn es ist das eingetreten, wovor der Anfang der 1990er Jahre ermordete, sehr beliebte ANC- und KP-Politiker Chris Hani gewarnt hatte. Nämlich, dass die reale Gefahr bestünde, dass – nachdem der ANC die Regierungsgewalt übernehmen würde – einige Funktionäre ihre Ideologie gegen das Raffen von Geld umwidmen könnten. In der Tat gehören Korruption und Neopatrimonialismus heutigen Tags zum alltäglichen Geschehen. Und eine ständig steigende Verelendung der Ärmsten der Armen. 55 Prozent der 60 Millionen Südafrikaner leben von weniger als 71 Euro im Monat. Viele haben nicht einmal diese Summe zur Verfügung.

Nicht zuletzt deshalb hat die Kriminalität enorme Ausmaße angenommen. In der Touristenhochburg Kapstadt werden täglich zehn Morde gezählt; im ganzen Land sind es laut Statistik 76 Opfer. Man versucht sich im Süden des Landes, in der Provinz Western Cape – wo die oppositionelle Partei Democratic Alliance die Regierung stellt –, damit zu trösten, dass die Mehrheit der Ermordeten Opfer von Auseinandersetzungen unter Drogenbanden gewesen seien. Ob das belastbare Argumente sind, sei dahingestellt. Fakt ist, dass über das Land an der Südspitze Afrikas inzwischen wichtige Transportwege des internationalen Drogenhandels verlaufen. Quasi als Nebenverdienst haben hier Drogenhandel und -konsum neue Ausmaße erreicht.

Ein relativ neues, nicht so gefährliches, jedoch ärgerliches Problem wird vor allem für Touristen sichtbar, wenn sie Ansichtskarten verschicken wollen. Dieses beliebte Urlaubsritual können die Touristen vergessen. Denn mit Sicherheit sind die meisten Urlauber wieder in ihre Heimatorte zurückgekehrt, bevor eine Karte in den Briefkästen ihrer Angeschriebenen landet – wenn sie überhaupt in Südafrika einen solchen noch finden konnten. In persönlichen Gesprächen sowie in Radio- und TV-Sendungen wird oft darüber spekuliert, wie ein staatliches Postunternehmen gänzlich zusammenbrechen konnte. Eine Postsendung von Deutschland nach Südafrika hatte bereits in den Jahren zuvor oftmals schon sechs bis acht Monate gedauert. Nunmehr scheint wirklich Schluss zu sein.

 

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Am markantesten wird dem Südafrika-Touristen auffallen, dass er nicht mehr in dem Land weilt, welches er in den Jahren zuvor bereist hat, wenn er feststellen muss, dass er nunmehr pro Tag jeweils zwei bis drei Mal staatlich organisierte und online angekündigte Stromabschaltungen von zwei bis drei Stunden über sich ergehen lassen muss. Load Shedding – „Lasten-Abwurf“, worunter „geplantes Abschalten von Strom“ verstanden werden soll, genannt. Ferienressorts und Einkaufsmalls schmeißen dann ihre Generatoren an. Kleinere Geschäfte und Privathaushalte benutzen Batterielampen, die in der Regel die Zeit der Stromausfälle überbrücken können. Sich solche Investitionen nicht leisten könnende Betriebe und Läden, wenn sie denn die Pandemie überstanden haben, gehen pleite. Die Menschen haben sich an Stromabschaltungen zwischen vier und elf Stunden pro Tag gewöhnt und nehmen es gelassen hin, selbst wenn angekündigt wird, dass dieser Zustand vermutlich noch fünf Jahre lang andauern wird. Für einen auf Energiesparen getrimmten Deutschen fällt sicherlich auf, dass, wenn der Strom fließt, keiner mehr Rücksicht auf einen sparsamen Umgang mit der Energie zu nehmen scheint. Individuelles Energiesparen ist hier nicht angesagt. Bei Sonnenschein sieht man Lampen brennen, sowohl in den Häusern der wohlhabenden Menschen, als auch in den Townships.

Schon im Jahre 1992, also bevor der ANC die Macht übernommen hat, fragten umweltbewusste Politiker aus den Reihen der Befreiungsorganisation, die in der DDR im Exil waren, an, ob nicht deutsche Solidaritätsgruppen kleine, mobile Photovoltaikanlagen liefern könnten. Die Bitte hatte wenig Erfolg, so dass vor allem im nunmehr vor der Tür stehenden Winter die Ärmsten, die ohnehin kaum Zugang zur Elektrizität haben, frieren müssen.

Nur wenn der Strom abgeschaltet ist, sieht man die Folgen der staatlich verordneten Energieeinsparung, wie lange Staus auf den Straßen wegen ausgeschalteter Ampeln und keine Straßenbeleuchtungen. Aber der Südafrikaner nimmt die rigorosen Maßnahmen der Regierung gelassen hin. Ampeln waren vorher auch schon zuhauf ausgefallen. Und somit stellt dies keine große neue Herausforderung dar.

 

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„From Democracy to Disaster“ heißt es anklagend bei Protesten auf südafrikanischen Straßen oder vor Universitäten. Denn in der Tat befindet sich das Land in der größten Krise seit der Apartheid. Auch Wähler der ehemaligen Befreiungsorganisation sehen sich getäuscht und wenden sich von der korrupten ANC-Elite ab. Alte, ihr Leben für die Apartheid-Überwindung eingesetzte „Fighter“, lassen sich nicht gern an ihre zerstobenen Träume erinnern und ziehen sich aus der Politik zurück; die Enttäuschung ist zu groß. Geradezu erschreckend ist die zuweilen von Schwarzen zu hörende Meinung, dass man zu Apartheid-Zeiten wenigstens noch die Kinder zur Schule schicken konnte, denn auf dem platten Lande und in den Townships ist dies heute oftmals nicht mehr möglich.

Die Korruption, die der Verfasser dieser Zeilen am eigenen Leibe – sprich Geldbeutel – erleben musste, nimmt inzwischen kaum glaubliche Ausmaße an – auch an den Universitäten. Die einst weltweit größte und geachtete Fernuniversität University of South Africa ist im internationalen Ranking aus der Liste der universitären Bildungseinrichtungen gestrichen worden. Wer Geld hat, kann sich einen Abschluss kaufen – oder wie an einem juristischen Department geschehen, gleich nach dem Abschluss des Bachelors einen Professorentitel erwerben. Das noch den Bildungsauftrag ernst nehmende Lehrpersonal wartet zuweilen monatelang auf seinen Lohn und muss sich mit jeweils bis zu tausend Studierenden herumschlagen. Übergriffe auf den universitären Campi und studentischen Wohnheimen nehmen zu. Offene Personalstellen können nicht besetzt werden, weil es laut affirmative action, eine Politik, die die Besetzung von Arbeitsplätzen nach einem Schlüssel der Bevölkerungszusammensetzung vorsieht, keine qualifizierten schwarzen Bewerber gibt. Derweil sinkt der Anteil der weißen Bevölkerung von etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung zu Beginn der 1990er Jahre auf aktuell etwas über neun Prozent. Denn wer es sich oder für seine Kinder leisten kann, geht ins Ausland oder schickt die Nachkommen in andere Länder zum Studium. Hierbei handelt es sich zumeist um Fachkräfte.

Diese in Südafrika durchaus offen diskutierten Fakten, vor allem jedoch die anrüchigen Korruptionsfälle, rufen wieder alte rassistische Vorstellungen bei den Menschen hervor. Auch unter Schwarzafrikanern kann man solche xenophobische Einstellungen feststellen.

Politische Beobachter sind der Meinung, dass bei den im kommenden Jahr anstehenden Wahlen dem ANC der Machverlust drohen könnte. Ein interessierter Außenbeobachter kann den Bürgern im Süden des afrikanischen Kontinents, die einmal Vorbild für alle nach Beseitigung von Rassismus und Neokolonialismus dürstenden Menschen ein Vorbild waren, nur wünschen, dass sie sich von der Geißel der Korruption und Vetternwirtschaft selbst befreien können.