Der Premierenabend am 9. Juni 2023 fand statt bei hochsommerlichen 26 Grad auf der Quecksilbersäule, die heute in der Regel leider bloß noch eine Digitalanzeige ist. Da war es im Theater am Rand höchst angenehm, dass man durch Anklappen der oberen Seitenwände des Hauses für kühlenden Durchzug im Zuschauerraum gesorgt hatte. Als dann gleich nach Vorstellungsbeginn auch noch die gesamte Rückfront der Bühne geöffnet wurde, hatte dies trotz und wegen der Verhängung der Freiflächen mit einer halbdurchsichtigen Gaze einen doppelten Effekt: Die Luftzirkulation nahm nochmals zu, und die sich an den Bühnenraum anschließende Landschaft samt ihrer Vegetation und dem dort seit vielen Jahren „ankernden“ Seelenverkäufer wirkte nunmehr wie vom frühen Gerhard Richter gemalt. Das passte gut zum nostalgischen Charakter des Programms, in dem Vergangenes, aber Unvergessliches verhandelt wird.
Auf der Bühne selbst – salonartige Backstage-Ausstattung: ein Ledersofa, zwei ebensolche Armsessel, Stehlampen, ein ausladender Tisch mit einem üppigen Getränkepotpourri. Dazu Arbeitsgeräte: Gitarren, Flügel und Keyboard. An denselben – Thomas Rühmann, Reentko Dirks und Clemens Christian Poetzsch.
Worum geht es? Kurz gesagt um große Namen und große Songs der Popgeschichte, vornehmlich der 1960er und 1970er Jahre und um die musikalische Initiation der drei Protagonisten in deren Kinder- und Jugendtagen.
Bei den großen Namen und Songs dabei sind natürlich die Beatles („Here comes the sun“) und Bob Dylan („The times they are a changing“), doch auch Chuck Berry („Johnny be good“), Chris Rea („Looking for the summer“) und Johnny Cash mit seinem Altersklassiker von 2002 („The man comes around“).
Das Trio liefert musikalisch eigene Interpretationen der Lieder ab, teils mit selbst ins Deutsche übertragenen Texten.
Ein erster Höhepunkt dank der Stimme und des virtuosen Gitarrenspiels von Reentko Dirks – „Paint it black“ von den Stones (1966). Unter anderem verewigt auf der LP „Stone Age“ von 1971, die in der Diskografie der Band zwar als von minderem Rang geführt wird – nur als Kompilation ausgewiesen, nicht als Album. Doch aus Sicht des Verfassers – die genialste Scheibe der Stones überhaupt ist.
Dazwischen immer wieder Anekdoten aus der Popmusikgeschichte. Wie jene vom nachts aufwachenden Paul McCartney, der die Akkorde, die ihm da durch den Kopf klangen, notierte, um am nächsten Tag seine Band- und andere Kollegen zu befragen, wo sie den Song schon mal gehört hatten, weil er selbst glaubte, ihm sei solches ebenfalls widerfahren. Doch nichts dergleichen. Die Akkorde fügten sich vielmehr zur meist gespielten Pop-Ballade ever – „Yesterday“.
Zugleich erinnert sich das Trio auf der Bühne an die jeweils eigene, oft verschlungene, teils kuriose musikalische Historie. So wuchs Thomas Rühmann in einer westgrenznahen Region der DDR heran, in der der sogenannte Soldatensender empfangen werden konnte. Während des Kalten Krieges ein Propagandainstrument der DDR mit dem Ziel, die, wie es Rühmann formuliert, „Bundeswehr zu erobern“. Dabei wurden die Versuche zur ideologischen Beeinflussung des Klassenfeindes in ein Programm höchst aktueller Westmusik verpackt, die in der DDR damals offiziell eher noch auf dem Index stand. Wie dieser Sender von seiner Zielgruppe goutiert wurde ist dem Verfasser nicht bekannt, doch dass der Soldatensender bei Heranwachsenden in der DDR höchst beliebt war, kann er aus eigener Erfahrung bestätigen. (Nach dem Grundlagenvertrag zur Normalisierung der Beziehungen zwischen DDR und BRD von 1972 war der Sender dann von einem Tag auf den anderen aus dem Äther verschwunden.)
Wie nun aber der junge Tom Waits, während ihn noch keiner kannte, als einziger weißer Besucher eines New Yorker Konzertes von Chuck Berry, eines der Pioniere des Rock ’n’ Roll und des vielleicht wichtigsten Impulsgebers für die Entstehung der Beat-Musik überhaupt, auf dessen Sofa gelangt sein, was sich bei dieser Gelegenheit sonst noch ereignet haben und welche Phalanx an Pop-Heroen dabei ebenfalls ins Spiel gekommen sein könnte, soll hier nicht einmal ansatzweise angedeutet werden. Um dies zu erfahren, muss man sich schon ins Theater am Rand begeben.
Und wie kommt man auf so einen Storyteller-Abend? „Ich bekam“, so erzählte es Thomas Rühmann dem Verfasser, „bei verschiedenen Gelegenheiten immer mal wieder mit, dass Reentko und Clemens sich darüber austauschten, wie sie zur Musik gekommen sind, welche Songs auf den privaten Hitlisten ihrer Jugend standen, welche Geschichten und Anekdoten dazu im Umlauf waren … Und dann war eines Tages die Idee da, ein entsprechendes Programm zu stricken. Wir haben uns zusammengesetzt und gemeinsam in unseren Erinnerungen gekramt. Das Ergebnis ist jetzt auf der Bühne zu erleben.“
Die Musik übrigens, mit der Tom Waits später selbst ebenfalls berühmt geworden ist, gab es zu jenem Zeitpunkt, zu dem sich die Sofa-Geschichte zugetragen haben könnte, noch nicht. Trotzdem hätte es verwundert, wenn dieses Programm gänzlich ohne Tribute an das Œuvre seines ersten Namensgebers auskäme. Ausgewählt für den Abend war schließlich eines von Waits‘ genialsten Stücken, wenn nicht das genialste – „Tom Traubert’s Blues“. Waits, dessen Streben es gewesen sei, so wird es im Programm gesagt, zur männlichsten Stimme am Firmament der Popmusik aufzusteigen, dürfte seinem Ziel nie näher gewesen sein als bei eben diesem Song. Und sollte Thomas Rühmann die Versuchung überhaupt empfunden haben, das Lied selbst zu singen, so hat er ihr jedenfalls nicht nachgegeben – er rezitiert vielmehr den Text zur Melodie und schafft damit einen weiteren Höhepunkt zum Abschluss des Abends. (Anmerkung für alle, deren mäßiges Englisch, wie das des Verfassers, leider nie ausreichte, um wirklich zu verstehen, worum es in dieser melancholischen Ballade nach dem einleitend hingeröchelten „Wasted and wounded […]“ so richtig geht – Rühmann rezitiert eine Übertragung ins Deutsche.)
Der Schlussapplaus eines mit Fortschreiten der Vorstellung immer unmittelbarer mitgehenden Publikums war heftig und erbrachte drei Zugaben. Dass sich bei denen dann die inhaltliche Verbindung zum gerade gehörten Programm nicht so recht erschließen wollte, tat der aufgeräumten Premierenstimmung im Übrigen keinen Abbruch.
P.S.: Warum „Pop-Heroen in Oderaue?“ Die offizielle Anschrift des Theaters am Rand lautet – Zollbrücke 16, 16259 Oderaue.
„Als Tom Waits bei Chuck Berry auf dem Sofa lag. Ein Storyteller-Abend“, Theater am Rand; nächste Vorstellungen am 5. und 6. Oktober 2023. Spielplan im Internet. Platzreservierungen (online) unbedingt erforderlich. Empfolener Eintritt bei Austritt – 25,00 Euro.
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