26. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2023

Einsames Ungarn

von Árpád W. Tóta, Budapest

Wo sind sie alle? – so fragte 1950 der italienische Physiker und Nobelpreisträger Enrico Fermi nach Außerirdischen. Seitdem haben Dutzende namhafte Wissenschaftler über seinen Vorschlag nachgedacht. Zu den möglichen Lösungen gehört unter anderem, dass intelligentes Leben eine wirklich einzigartige Entwicklung ist und dass solche Zivilisationen dazu neigen, sich im Laufe ihrer Entwicklung selbst zu zerstören. Eine brillante Idee ist auch, dass wir in einer Simulation leben, die uns eine Maschine vorspielt, in deren Programm es gar nichts Außerirdisches gibt.

Wo sind unsere Freunde? – so könnte man als Ungar fragen, wenn man das Universum mit uns vergleichen will.

Heute hat Ungarn keine Verbündeten in Europa. Wir haben es geschafft, uns sogar mit unserem ältesten Freund Polen zu überwerfen und der für Orbán vielversprechende italienische Regierungswechsel brachte ihm auch keine neuen Freunde. Zur Erinnerung: Von manchen Orbán-Gläubigen wurde 2017 als das Jahr der Rebellion ausgerufen, in dem sich alle Völker Europas erheben, um sich dem Orbánismus anzuschließen.

Aber nichts dergleichen ist passiert.

Bewegungen, die mit der ungarischen Regierung sympathisieren, sind vielerorts zu finden, aber nirgendwo können sie dauerhaft die Macht an sich reißen, geschweige denn eine Hegemonie aufbauen. Ein Grund dafür ist auch, dass diese Leute – bezeichnenderweise mit Hörnern auf dem Kopf – verlangen, dass Echsenmenschen über das in Pizza gebackene Blut christlicher Kinder Rechenschaft ablegen. Spirituell gehören diese Leute in Ungarn meistens zu den Anhängern der Bewegung QAnon oder Querdenkern. Wie ist es möglich, dass sich solche Ideen in unserem Land ausbreiten, während sie überall sonst als marginale Subkultur gelten?

Theoretisch gäbe es eine einleuchtende Erklärung. Demnach unterscheiden sich die Ungarn so sehr von allen Völkern Europas, dass ihr politischer Wille von einem ganz anderen Parteiensystem geprägt ist als zum Beispiel dem der Slowaken oder der Rumänen. Man könnte meinen, dass neun Millionen Azteken als Fallschirmspringer im Karpatenbecken gelandet sind. Und diese würden ganz anders über Menschenopfer denken als die umliegenden Völker.

Wir Ungarn sind aber nicht soeben gelandet und wir sind auch nicht etwas anderes; wir haben es auf die gleichen Autos, Pralinen und Mobiltelefone abgesehen wie unsere Nachbarn. Die Politik ist die einzige Ausnahme: Die Mehrheit schwört auf das nationalistische Moskauer Einparteiensystem, während keiner unserer Nachbarn auf dieses Niveau gesunken ist.

Der Orbanismus überschreitet nicht die Grenze und wird nicht von äußeren Ereignissen beeinflusst. Was denkt man über einen Pokerspieler, der trotz aller statistischen Wahrscheinlichkeiten ständig gewinnt? Was ist das Geheimnis, wenn einer beim Wetten immer auf das richtige Pferd setzt?

Richtig! Er betrügt.

Nein, nicht so plump wie in Belarus, wo man bei der Wahl die Stimmen für die Opposition einfach verschwinden lässt. Orbán betrügt jeweils nur ein wenig, aber in jeder Phase des Wahlprozesses. Die Summe dieser Betrügereien lässt die politische Waage sich immer auf seine Seite neigen.

Der Autokrat vermehrt seine Bedeutung, sein Netzwerk und seine Schuldner immer aus endlosen öffentlichen Mitteln, aber selbst die lässt er von Tausenden miteinander konkurrierenden Parasiten aus dem Körper seines Landes saugen. Allein für die Verbreitung seiner Propaganda in den öffentlichen Medien gibt Orbán mehr aus als die gesamten Einnahmen der unabhängigen Presse zusammen; gar nicht zu sprechen von kostspieligen Pseudovolksbefragungen und dem Zukleistern des ganzen Landes mit Riesenplakaten – eine Möglichkeit, die seinen Konkurrenten verwehrt wird. Von den Folgen seiner Fehler und Verbrechen wird er durch die von seiner Regierung besetzten Institutionen und Behörden geschützt, vom Kartellamt, von der Notenbank bis hin zur Staatsanwaltschaft.

Weder die Regierung noch ihre erbärmlichen Geldeintreiber können auffliegen. Orbán kann nach Herzenslust öffentlich Falsches behaupten, wissend, dass die Richtigstellung erst viel später erfolgt, wenn überhaupt.

Er muss mit niemandem diskutieren, er muss sich für seine falschen Entscheidungen nicht rechtfertigen. Stellt man ihm im Vorbeigehen eine unerwartete Frage, dann lautet seine hastige Antwort: Schöne Weihnachten! Und er läuft davon. So muss er die abgegebenen Wählerstimmen nicht einmal manipulieren. Er kann durch fingierte Volksbefragungen mit den Bürgern beliebig umspringen. Von juristischen Taschenspielertricks bis bestellten Schlägertruppen – alles geht. Dazu kommt, dass der ungarische Geheimdienst ohne jegliche Kontrolle Lauschangriffe gegen jeden starten kann. Die Spielregeln legt Orbán für sich selbst fest und er kann sie auch über Nacht ändern. Niemand in Europa kann ihm das nachmachen. In Asien hingegen gibt es das schon seit Jahrhunderten.

Wir haben keine Freunde in Europa, weil Orbáns „illiberale Demokratie“ kein europäisches System ist. Das ist für eine funktionierende Demokratie fatal. Er wäre damit längst gescheitert wie Trump, Fico und Kurz, oder die Opposition hätte sich in einem fairen Kampf durchgesetzt. Er hält seine Macht aufrecht, indem er sie missbraucht. Eine Veränderung ist überhaupt nicht in Sicht.

Möglich, dass er sich nur in der Zeit irrt. Ähnliche Systeme gab es nämlich in Europa in den vergangenen Jahrhunderten auch schon. Die Bourbonen, die Heilige Allianz, die Habsburger und die Kommunisten behielten ihre Macht auf genau die gleiche Weise: indem sie die Möglichkeit der Wahl im Namen der heiligen Tradition beseitigten. Sie versanken in ihrer uneingeschränkten Macht und bemerkten erst beim Aufwachen nach dem Gelage, dass das Haus über ihnen brennt. Sie zerstörten sich selbst, indem sie den Wettbewerb abgeschafft hatten. Diese Zivilisationen neigen dazu, sich selbst abzuschaffen – wie Fermi schon andeutete. Und wo sind sie alle? Auf dem Müllhaufen der Geschichte!

Übersetzt aus dem Ungarischen von Gábor Szasz.