Dorothy Thompson (1893-1961) war die First Lady des US-amerikanischen Journalismus und wurde 1939 vom Time Magazine als zweitwichtigste Frau der USA nach Eleanor Roosevelt, der Ehefrau des 32. Präsidenten Franklin D. Roosevelt, bezeichnet. Thomas Mann, Sigmund Freud, Carl Zuckmayer oder Bertolt Brecht zählten zu den Bekannten der späteren Gründerin der „Weltorganisation der Mütter aller Nationen“ (1947).
Mit 26 Jahren ging Thompson nach Europa, um als Reporterin vom irischen Unabhängigkeitskampf und von der zionistischen Bewegung zu berichten. Als erste Frau wurde sie Korrespondentin in Wien und anschließend in Berlin. Dort gelang es ihr im Dezember 1931, einen Gesprächstermin mit Adolf Hitler zu bekommen. Das Interview erschien im März 1932 unter dem Titel „I Saw Hitler!“ (deutsch „Ich traf Hitler!“ in der Frauenzeitschrift Hearst’s International – Cosmopolitan und im Mai in der englischen Literaturzeitschrift Nash’s Pall Mall Magazine. Der Artikel war jeweils illustriert mit vier Fotografien aus der Serie von Heinrich Hoffmann, die Hitler in rhetorischen Posen zeigten. Noch im selben Jahr erschien eine erweiterte und überarbeitete Buchausgabe.
Erst 1988 wurde in deutscher Sprache ein Teil des Artikels in dem Sammelband „Kassandra spricht. Antifaschistische Publizistik 1932-1942“ des Verlages Gustav Kiepenheuer (Leipzig und Weimar) veröffentlicht. Eine französische Ausgabe kam 2017 heraus. Nun liegt „Ich traf Hitler!“ im Wiener DVB Verlag (Das vergessene Buch) erstmals vollständig in deutscher Übersetzung vor.
Thompson hatte die politische Entwicklung in der Weimarer Republik schon jahrelang beobachtet und in Reportagen von der ökonomischen Krise und der Agitation der Nationalsozialisten berichtet. Das Treffen mit Hitler fand wenige Monate vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Hotel Kaiserhof in Berlin statt. Das Interview gestaltete sich schwierig, denn Hitler redete die ganze Zeit so, als wäre er auf einer Massenveranstaltung. Ständig fantasierte er über Ehre, Volk, Vaterland, Treue, Familie, Opferbereitschaft oder Rache. Seine Stimme steigerte sich bisweilen fast zu einem Schreien und mehrfach schlug er auf den Tisch.
„Ich traf Hitler!“ ist Porträt, Psychogramm, Reportage und Essay in einem. Thompson porträtierte ihn als Verkörperung des „Kleinen Mannes“. Doch warnte sie davor, sich von seiner persönlichen Mittelmäßigkeit täuschen zu lassen. Vielmehr ging sie seiner ungeheuren Wirkung nach und ergründete dabei zugleich die Psychologie einer Gemeinschaft von „vermeintlich Zukurzgekommenen“. Nicht Hitler sei das Problem, sondern die Millionen von Anhängern und Wählern, die sich in dieser Figur wiedererkennen. Die NS-Bewegung mit ihren Stoßtrupps und Straßenschlägereien waren Thompson zwar längst geläufig, aber das Interview offenbarte noch einmal in erschreckender Weise die gefährliche Mischung von Faschismus, rassistischer Philosophie, Antisemitismus und konfusem Sozialismus.
In seinem Nachwort betont der Herausgeber, der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich, dass Thompson „die linkische Person von dem wirksamen Massenredner“ unterscheidet. „Gerade dass sie den Demagogen in seiner Aufgeblasenheit lächerlich findet, darf sie nicht davon abhalten, ihn als Phänomen ernst zu nehmen.“ Aus heutiger Sicht ist der Text eine für damalige Verhältnisse weitsichtige Analyse der Aufstiegsgeschichte der Nationalsozialisten. Neben dem Nachwort wird die Neuerscheinung durch zahlreiche Abbildungen, eine Zeittafel, eine Kurzbiografie von Dorothy Thompson sowie dem Bericht „Abschied von Deutschland“ ergänzt. Darin erzählt die Amerikanerin, wie sie 1934 nach Deutschland zurückkehrte und nach kurzem Aufenthalt wegen „deutschfeindlicher journalistischer Aktivitäten“ ausgewiesen wurde. Es war die erste offizielle Ausweisung eines ausländischen akkreditierten Korrespondenten seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Zurückgekehrt in die USA, schrieb Thompson weiter gegen das Nazi-Regime an, aber so wirkungsvoll wie in ihrer Reportage „Ich traf Hitler!“ gelang ihr das nicht mehr.
Dorothy Thompson: Ich traf Hitler! (aus dem amerikanischen Englisch von Johanna von Koppenfels), DVB Verlag, Wien 2023, 464 Seiten, 26,00 Euro.
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