Nein, in Weimar findet man Menantes nicht, zumindest nicht so direkt. Weimar war seit Kaiser Wilhelm I. die geistig-kulturelle Waffenschmiede des Reichs. Kunststück! Des Kaisers Gattin Augusta stammte aus Weimar. Wortgewaltig und streitbar betonte sie, alles, was sie wüsste, stammte von Goethe. Der Mythos hat die Zeiten in jedem deutschen Staatsgebilde überdauert. Als sich das deutsche Volk weiland geschlossen zur marktorientierten Freiheit bekannte, wurde in Weimar die große Flagge nationaler kultureller Identität gehisst. Weimar – die Kulturstadt Europas 1999! Für ganz Thüringen öffneten sich die Schleusen rollender Dukaten. Die gute alte Residenzkultur, sie würde mit ihren Investitionsmillionen über das touristisch pikante Bratwurstimage hinauswachsen und weltweite Ströme zahlungskräftiger Gäste über Weimar bis in die lauschigsten Waldwinkel abseits des Rennsteigs lenken. Doch da scheint irgendwo ein Missverständnis vorzuliegen. Es gibt doch kaum noch einen Kieselstein, keine Strauchfrucht oder keinen Fürstentitel, der nicht touristisch vermarktet oder mit liebreizenden Königinnen angehimmelt worden ist. Dennoch, alle paar Jahre wieder müssen neue Tourismuskampagnen für das Land aus dem Boden gestampft werden, weil dieser unvermeidlich existentielle Wirtschaftszweig im grünen Herzen Deutschlands immer wieder schwächelt.
Gute Neuigkeiten! Da muss einem grüblerischen Kopf das Goethewort aus dem Google getropft sein: „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen, Denn das Glück ist immer da.“
Drapiert mit vielen, vielen bunten Bildern im weltweiten Netz und rundum auf den Gassen sollen die ursten thüringischen Sehenswürdigkeiten mit den globalen Hochburgen des internationalen Tourismus kopulieren. Phantastisch: „In Thüringen um die Welt“. So lautet das Motto. Erfurts Krämerbrücke ähnelt ein bisserl Florenz. In den norwegischen Fjorden fühlt sich der Camper bei Saalburg. Die Burgen und Schlösser an der Saale – ist das nicht wie an der französischen Loire und selbst Schloss Friedensstein in Gotha nimmt es mit Versailles auf. Ganz oben, auf dem Großen Inselsberg ist man dem Gipfel des Mount Everest schon beträchtlich nahe. Doch eine Kampagne reicht nicht. Kombiniert wird die geniale Idee mit einer radikal geschmackvollen Vereinigung von Welterbe und heimischen Produkten nach dem Motto: Goethe und die Bratwurst oder Schiller und der Skat. Warum nur hat der Goethe genörgelt: „Des Menschen Glück, es ist ein eitler Traum“?
Nun ja, tadeln kann man die fabelhafte Phantasien nur, weil wieder einmal der Kommerz den Geist deckelt. Warum ergeben sich die gut bezahlten Manager in Thüringen eigentlich nicht dem glückseligen Schatz orientalischer freimütiger Erotik, wie er den Abendländern so herrlich durch die liebreizende Scheherazade in ihren Erzählungen aus tausend und einer Nacht überliefert worden ist? Orient und Okzident in Thüringen vereint. Welch ein Alleinstellungsmerkmal für den Tourismus! Und es ist sogar bereits attraktive Realität. In Thüringen gibt es das Dorf Wandersleben, nicht weit von Gotha und den Burgen der Drei Gleichen entfernt: Bagdad in Wandersleben! Dort öffnet sich das große Tor zu den Sinnenfreuden der ganzen Welt – durch einen deutschen Dichter, den die literarische Welt unter dem Namen Menantes kennt.
Er hieß eigentlich Christian Friedrich Hunold, und ist 1680 in Wandersleben geboren worden. Acht Jahre verbrachte der literarisch begabte Junge in Weißenfels unter der führenden Hand August Bohses, der damals als „Talander“ „galante“ Romane veröffentlichte. Diese entzückende Literatur zog den jungen Hunold so in ihren Bann, dass er sein ihm zugekommenes Vermögen verbrauchte und selbst das Leben als „galanter Student“ in Jena abbrechen musste. Hunold floh nach Hamburg und vollbrachte Dank seiner literarischen Talente ein Wunder. Er schrieb Romane! Das erste Buch „Die Verliebte und Galante Welt“ startete 1700 überaus erfolgreich. Hunold traf nach Inhalt und Stil den modischen Geschmack seiner Generation. Er würzte die Handlung mit pikanten Liebesgeschichten aus dem Bürgerleben und überwand das konventionelle Schema einschlägiger höfischer Romane.
Hunold stieg als Debütant sofort in den Kreis der elitären Librettisten der Hamburger Oper am Gänsemarkt auf – dem damaligen Zentrum der hanseatischen Kunstszene mit all ihren privaten wie gesellschaftlichen Leidenschaften. Ein sicherer Arbeitsplatz war das zwar nicht, aber der Jungautor wusste sich zu helfen. In dem Buch „Der Europäischen Höfe Liebes- und Heldengeschichte“ verdichtete er 1705 die am meisten ruchbar gewordenen Liebeshändel bei der Royals zu einer kulinarisch verschlungenen Romanhandlung und landete einen skandalösen Bestseller.
Solange er das Lesepublikum mit Geschichtchen aus der fürstlichen Obrigkeit fütterte, erntete Hunold viel Beifall. Als er jedoch 1706 im „Satyrischen Roman“ seine eigene „Marriage sans conscience“ als verzweifelte und unerfüllte Liebesgeschichte enthüllte, forderte er Nebenbuhler, Neider und Konkurrenten heraus. Seine literarischen Bekenntnisse über die Liebe zur Sängerin Conradi glichen dem Tageskalender einer Hamburger Edelprostituierten. Hunold musste untertauchen und floh zurück in das heimatliche Wandersleben. Er schrieb weiter satyrische Romane über die Liebe, wusste aber auch, dass der Reiz diese Art Literatur schnell verglühte, während die Bedürfnisse eines so jungen Bestsellerliteraten ständig stiegen.
Menantes suchte die Zielgruppe für seine künftigen Einnahmen unter den Studenten und ging nach Halle an der Saale. Er hatte herausgefunden, dass die dortigen Studenten der Illusion unterlagen, seine Romane spiegelten das wahre höfische Leben und wären praktische Ratgeber für die eigenen künftigen Karrieren im Dienste wohlhabender Fürsten. Hunold-Menantes veranstaltete Privatseminare und konnte von deren Einnahmen gut leben. Ein genauer Blick in die 1710 veröffentlichte zweite Ausgabe des „Satyrischen Romans“ hätte die Studenten belehren können, dass der Autor mit Rücksicht auf das eigene Image durchaus zu eigenwilligen Korrekturen neigte: die Sängerin Conradi wurde aus den Hamburger Skandalen schlicht entfernt.
Für Hunold war das ein Schritt vom galanten Lotterlebemann zum seriösen Akademiker. Reuevoll bekannte er: „Meine Feder hatte einige Worte in ihrem Vermögen: so meinte sie schon zu fliegen. Ich war jung; von Tugenden besaß ich nichts, und von Wissenschafften hatte ich wenig Kenntniss, und gleichwohl wolte ich hoch hinaus. Ich hatte von der Adler ihren Flug zur Sonnen gehöret; und gedachte mit blöden Augen meines verfinsterten Verstandes eine so jähe Bahn gleichfalls zu finden. Allein ich geriehte mit den Sinnen unter die Eulen, welche die Nacht lieben, und den Tag scheuen, oder vielmehr den Tag vor die Nacht halten.“
Hunold studierte wieder, erwarb den Doktor der Rechte, ehelichte eine Dame namens Zündel, zeugte mit ihr vier Kinder, schrieb fleißig weitere Texte – einige vertonte der große Johann Sebastian Bach. 1721 starb er an der Tuberkulose. Der hoffnungsvolle Schriftsteller ist nur 41 Jahre alt geworden. Sein Nachruhm als Schöpfer phantasievoller „galanter“ Schriften hält unverdrossen an.
In Wandersleben gibt es ein Literaturmuseum. Seit 2006 wird dort ein mit dem Namen Menantes verbundener Preis für erotische Literatur verliehen, auf den es einen geradezu leidenschaftlichen Ansturm gibt. Galante Phantasien dominieren den Buchmarkt heute gerade wie vor 300 Jahren. Das alles wäre ohne den kulturbildenden Einfluss der arabischen Welt auf die Selbstgefälligkeit des „Abendlandes“ im 18. Jahrhundert kaum möglich geworden. Hatte nicht auch Goethe den „West-östlichen Diwan“ verfasst? Und hatte dieser Goethe nicht mit seinem berüchtigten „Tagebuch“ ein Exempel erotisch-frivoler Literatur geschaffen, das bis heute für Aufsehen sorgt? Wie archaisch rein sind dagegen die erotischen Bekenntnisse einer Scheherazade aus dem Orient, die auch in den Trägern des Menantes Preises für erotische Literatur ihre moderne Wiederauferstehung feiern dürfen – ein einmaliger Touristenmagnet für Thüringen!
Schlagwörter: Christian Friedrich Hunold, Detlef Jena, erotische Literatur, Menantes, Wandersleben