Zu Beginn dieses Jahres jährte sich die Unterzeichnung des Abkommens „Über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam“ zum 50. Mal. Am 27. Januar 1973 unterzeichneten die Außenminister der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) und der USA, Nguyen Duy Trinh und William P. Rogers, den Vertrag, den die Chefunterhändler Le Duc Tho und Henry Kissinger in fünfjährigen, immer wieder unterbrochenen Geheimgesprächen in der französischen Hauptstadt ausgehandelt hatten. Unterschriftsreif war das Abkommen schon im Oktober 1972. Selbst Kissinger, der nicht hatte glauben wollen, „dass eine viertklassige Macht wie Nordvietnam nicht an irgendeinem Punkt aufgeben muss“, sah den Frieden bereits „zum Greifen nahe“. Doch um weitere Zugeständnisse der von ihnen Überfallenen zu erzwingen, machten die USA den Norden Vietnams noch einmal zum Schauplatz einer „beispiellosen Bombardierungsorgie“. So beschreibt Hellmut Kapfenberger das, was er das „letzte Aufbäumen einer Weltmacht auf der Verliererstraße“ nennt. In dem Text- und Bildband „Vietnam 1972“ hat er seine Erlebnisse am Ort des mörderischen Geschehens auf ergreifende Weise festgehalten.
Kapfenberger hatte im September 1970 seinen Dienst als Korrespondent der DDR-Nachrichtenagentur ADN und des Neuen Deutschlands in Hanoi angetreten. Einen Fliegeralarm hatte es in der DRV-Hauptstadt nicht mehr gegeben, seit USA-Präsident Lyndon B. Johnson Ende Oktober 1968 die Einstellung der 1965 nach dem berüchtigten Tonkin-Zwischenfall begonnenen Luftangriffe gegen die DRV verkündet hatte. (Die Intensität der Angriffe auf die Befreiungsstreitkräfte im Süden Vietnams wurde dafür verdreifacht.) Doch im November 1971 – Johnson war inzwischen durch Richard M. Nixon abgelöst worden, die „Vietnamisierung“ des Krieges war gescheitert – begann die Bombardierung der südlichen Provinzen des vietnamesischen Nordens von Neuem. Ab 10. April 1972, schreibt Kapfenberger, „herrschte im Grunde keine Ruhe mehr“. Immer wieder wurde die Handvoll in Hanoi stationierter ausländischer Korrespondenten (kein einziger vertrat eine Agentur aus der westlichen Welt) an Orte gerufen, über denen B-52-Bomber ihre zerstörerische, todbringende Last abgeworfen hatten: Angeblich „militärische Ziele“ waren Krankenhäuser, Schulen, Arbeitersiedlungen, Bauerndörfer, Märkte, Pagoden, Deiche und Hochwasserschutzanlagen, später selbst die offizielle Vertretung Frankreichs in Hanoi. Und unter den Trümmern Tote und Verletzte.
Der Autor beschreibt Begegnungen mit Überlebenden, Schwerverwundeten, Ärzten, Lehrern, Bürgermeistern, aber auch mit den meist wortkargen Piloten zur Strecke gebrachter „Todesvögel“ – und dem einzigen vietnamesischen Jagdflieger, dem es gelang, eine B-52 abzuschießen (Dutzende weitere wurden von Fla-Raketen-Batterien vom Himmel geholt), dem späteren vietnamesischen Kosmonauten Pham Tuan.
In der Nacht zum 16. April hagelte es Bomben auch auf Gebiete nördlich des 20. Breitengrades, die zuvor verschont worden waren. In Hanoi heulten erstmals wieder die Alarmsirenen. Am schwersten aber traf es an diesem Tag die Hafenstadt Haiphong, wo sich den herbeigeeilten Korrespondenten ein Bild der Verwüstung bot. Eine Luft-Boden-Rakete traf auch das im Hafen liegende Motorschiff „Halberstadt“ der Deutschen Seerederei.
Am 11. Oktober notiert Kapfenberger: „Es wird und wird nicht ruhig. Schlimmster Tag der vergangenen Woche war der Freitag mit viermaligem Alarm um 4.15 Uhr, 9.15 Uhr, 11.30 Uhr und 13 bis 14 Uhr mit meist heftigen Angriffen auf Stadtrand und Umgebung Hanois […] Im Laufe des Tages war zu erfahren, dass bei dem dritten Alarm eine Straße inmitten der der Hauptstadt von einer Shrike-Rakete getroffen wurde, die fünf Menschen, darunter zwei Kinder in den Tod riss …“
Die schwersten Bombenangriffe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs flog die US Air Force indes in den zwölf Tagen und Nächten zwischen dem 18. und dem 29. Dezember, in den USA sprach Man von den Christmas Bombings. Nixon hatte die Bombardierung des gesamten DRV-Territoriums befohlen, als wolle er dem einstigen Luftwaffenchef Curtis LeMay folgen, der schon in den 60er Jahren gefordert hatte, man solle Vietnam „zurück in die Steinzeit bomben“. Selbst die Washington Post fragte, ob der Präsident den Verstand verloren habe. Mit Notizbuch und Kamera – den Stahlhelm im Marschgepäck – dokumentierte Kapfenberger tagebuchartig pausenlose Luftangriffe und beschrieb die verheerende Wirkung teuflisch ausgeklügelter Waffensysteme. Beeindruckende Fotos zeugen davon, was Vietnam in jenen Tagen angetan wurde. Doch das Land, seine Regierung und seine Bewohner gaben nicht auf. Schon in der ersten Januar-Dekade 1973 kamen Le Duc Tho und Henry Kissinger in Paris wieder zusammen und paraphierten das im Oktober ausgehandelte Abkommen ohne substanzielle Änderungen. Vereinbart wurden der vollständige Abzug der US-amerikanischen Truppen aus Vietnam und die Freilassung der gefangenen USA-Militärs durch die DRV. Der „Amerikanische Krieg“, wie er in Vietnam heißt, war faktisch entschieden.
Für die Jüngeren ist der Vietnamkrieg inzwischen dunkle Vergangenheit. Viele Zeitzeugen indes hat er fürs Leben geprägt, schon gar jene, die den Krieg „hautnah“ erlebt haben. „Bei allem zu verurteilenden Geschehen in der Gegenwart“, schreibt Kapfenberger, dürften die ungeheuren Kriegsverbrechen jener Zeit nicht in Vergessenheit geraten.
Dem ehemaligen Fernsehjournalisten Hanns Joachim Friedrichs wird immer wieder die Forderung zugeschrieben, ein guter, seriöser Journalist dürfe sich mit keiner Sache „gemein“ machen, „auch nicht mit einer guten Sache.“ Friedrichs bezog diese Maxime übrigens nach eigener Aussage von seinem Mentor und „väterlichen Freund“, dem BBC-Reporter Charles Wheeler. Selbst Träger des seit 1995 verliehenen Hanns-Joachim-Friedrich-Preises haben die Forderung allerdings infrage gestellt.
Hellmut Kapfenberger, der insgesamt sieben Jahre lang in Vietnam gearbeitet hat, gesteht im Epilog seines Buches, er habe sich dieses Credo nicht zu eigen machen können. Mit „Vietnams Sache“ habe er sich sehr wohl gemein gemacht. Dafür sprechen nicht weniger als fünf Bücher, die der ehemalige Nachrichtenjournalist nach Ende seines Berufslebens veröffentlicht hat: über die Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen („Berlin-Bonn-Saigon-Hanoi“, 2013), Vietnams 30-jährigen Überlebenskampf („Unser Volk wird gewiss siegen“, 2015), die Geschichte des legendären Ho-Chi-Minh-Pfads (siehe Blättchen 18/2019), schließlich die politische Biografie Ho Chi Minhs (2020). „Vietnam 1972“ soll der „Schlussstein“ im Schaffen des inzwischen fast 90-jährigen Autors sein. Was Wunder, dass er die Frage, ob ein Land, „schon gar ein kommunistisch regiertes“, ein Journalistenleben prägen könne, ohne zu zögern bejaht.
Hellmut Kapfenberger: Vietnam 1972. Ein Land unter Bomben. Verlag Wiljo Heinen, Böklund 2023, 255 Seiten, 34 Euro.
Schlagwörter: Bombenkrieg, Detlef D. Pries, Hellmut Kapfenberger, Pariser Abkommen, Vietnam