26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

„Mauser“ in Schwerin – Aufschrei und Lamento

von Gerhard Müller

Zum letzten Male begegnete ich ihm, als er im Rollstuhl saß. Gitta, seine bulgarische Frau, schob ihn auf dem Bürgersteig der anderen Straßenseite, er schaute herüber, offenbar hatte er mich erkannt, winkte und lächelte sein sardonisches Lächeln – Paul-Heinz Dittrich. Einer der fünf aus dem „mächtigen Häuflein“ der avantgardistischen Komponisten der DDR. Man müsste ihn wieder einmal besuchen in seinem Wasserhaus am Zeuthener See, dachte ich. Nebenan hatten Paul Dessau und Ruth Berghaus gewohnt. Zeuthen war die Musenstadt der DDR, hier lebte außer Dessau und Dittrich auch Georg Katzer. Reiner Bredemeyer, Friedrich Schenker oder Friedrich Goldmann kamen zu Besuch, man traf Sarah Kirsch, Karl Mickel oder Volker Braun. Dessaus Opern „Lanzelot“ und „Einstein“, Katzers „Medea“, Bredemeyers „Winterreise“, Dittrichs „Todesfuge“ nach Paul Celan oder seine „Concerts avec plusieurs instruments“ sind hier entstanden. Und anderes mehr.

Ich habe Paul-Heinz Dittrich nicht wiedergesehen, er starb 2016. Auf dem Spielplan des Schweriner Staatstheaters erschien jetzt sein Name, und so begegnete ich ihm erneut. Angekündigt war ein Triptychon mit dem Titel „Mauser“, das sich zusammensetzte aus der Bach-Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ (1724), der Raumklang-Komposition „Io – frammento da Prometeo“ des Venezianers Luigi Nono (1984), der ebenfalls ein häufiger Gast in Zeuthen war, und Dittrichs letztem Bühnenwerk „Bruchstücke“ (2016). Georg-Paul Dittrich, der Sohn des Komponisten und Regisseur des Abends, fügte aus Sentenzen aus Heiner Müllers Lehrstück „Mauser“ einen (oft allerdings schlecht verständlichen) Text zusammen und inszenierte ihn in einem streng statuarischen Stil. Er bot ein Vademecum von verstörenden Fragmente, die mit einer verfehlten Revolution abrechneten – eine Gerichtsszene wie Brechts „Verurteilung des Lukullus“, aber vor Gericht steht kein Kriegsverbrecher, sondern ein von seinen eigenen Genossen angeklagter Revolutionär. Vom Fließband rollen die Totenköpfe der Revolution, die im Text fortwährend beschworen wird, obwohl sie nie stattfand. Freilich – die Figuren schrumpfen: Stimmen, Sätze, Sprechsäulen, aber keine Charaktere. „Mit allen Händen, mit denen die Revolution tötet, tötest auch du“, konstatiert der Chor, und eine Stimme, die „das Publikum“ heißt, antwortet „Ich habe meine Arbeit getan.“ Wer? Welche Arbeit? Die hier sitzen, klatschen Beifall.

Den Mittelteil des Abends bildet Luigi Nonos „Io – frammento da Prometeo“, ein berauschend schönes, aber trügerisches Klangbild. Es beschwört Prometheus, nach Marx den Kalenderheiligen der Revolution, und Io, die schöne Geliebte des Göttervaters Zeus, der sie auf Geheiß seiner Gattin in eine Kuh verwandelt und zum Idol aller Rindviecher machte. Die schimmernden Vokalklänge Nonos schweben als teils zarte, teils eruptive Klangwolken durch die Schweriner „M-Halle“, eine ehemalige Industriehalle auf dem Großen Dreesch, in der zu anderen Zeiten die „Schweriner Volkszeitung“ gedruckt wurde, die damals ebenfalls ein proletarisches Paradies verkündete. Die Bühne zeigt als ihren Bild-Kommentar den flachen, offenbar versiegenden „Canal Grande“ Venedigs, durch den in rote Roben gekleidete Gestalten waten – das paradiesische Gegenbild der finalen Zerbrechlichkeit der Dittrich’schen Fragmente, was ja ebenfalls „Bruchstücke“ bedeutet und die Antwort war auf Christa Wolfs einstige Frage nach dem, was bleibt.

Eingangs spricht Bachs Musik ihr Urteil mit der Kantate BWV 20 „O Ewigkeit, du Donnerwort“:

 

Nun aber, wenn du die Gefahr
Viel hundert tausend, tausend Jahr
Hast kläglich ausgestanden
Und von den Teufeln solcher Frist
Ganz grausamlich gemartert bist,
Ist doch kein Schluß vorhanden.
Die Zeit, so niemand zählen kann,
Die fänget stets vom neuen an.

 

Der Abend ist ein Fragezeichen, das der Regisseur hinter die Geschichte unseres Landes setzt. Dittrichs Musik behält das bittere letzte Wort. Kein Triumphgeheul, kein Freudenhymnus, sondern Aufschrei und Klage, Höllenpolyphonie und Lamento. Schillers Wort gilt hier noch – Theater als moralische Anstalt.

Dem szenischen Gedankenspiel entsprechen die enigmatischen Anspielungen der Bühnenbilder. Zu Bachs Kantatenton schaufelt sich die feudale Adelsgesellschaft ihr eigenes Grab. Die Paradieses-Seligkeit von Nonos „Frammento“ ist von eisernen Bauzäunen umstellt, die den Zutritt wie das Entkommen verwehren, und in der Gerichtszene der „Bruchstücke“ rollen die Schädel der Toten …

Nur drei Vorstellungen hat das Staatstheater von dieser ebenso mutigen wie nachdenklichen Produktion angekündigt. Das ist schade.