Die 2008 gegründete Galerie Art Cru in der Oranienburger Straße ist die erste – und einzig gebliebene – Berliner Galerie, die sich mit der Kunst von Outsidern, von behinderten oder psychisch erkrankten Menschen beschäftigt. Diese Künstler arbeiten oft lange unentdeckt mit bescheidenen Mitteln und Materialien, ohne sich um Konventionen zu kümmern oder sich nach dem Publikum oder aktuellen Trends zu richten.
Jetzt stellt die Galerie die in Berlin lebende Katinka Kaskeline aus. Sie, die eigentlich als Goldschmied ausgebildet wurde, arbeitet mit den unterschiedlichsten Techniken und Materialien. Sie zeichnet, malt, schneidet mit der Schere, klebt auf Papier und Holz, verwendet dazu ausgeschnittene Buchillustrationen, Fragmente aus eigenen Werken, Landkarten, Bindfäden, getrocknete Insekten; sie formt mit Gips und Draht, bemalt Porzellan und vieles andere mehr. In ihren Collagen bringt sie Überraschendes zusammen und verschmilzt alles, was sie an Material in die Hände bekommt. Die Kombination von Grundgesten zum Bild, die Artikulation der Realitätsabdrücke sowie ihre vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten und schließlich die zusammenfassende oder differenzierende farbige Übermalung resultieren dann wieder aus der Imagination und nicht etwa aus dem mechanischen Verfahren selbst. Es sind traumatische Erlebnisse, die sie immer wieder gestaltet, so in dem Bild „Scham“ von 2010, in dem sich Maden und Insekten auf einem Bett von in sich verschlungenen Frauenkörpern tummeln. Mit diesen amphibischen Wesen, die zwischen Atavistischem und Trivialem angesiedelt sind, gelingen ihr eindrucksvolle Bilder sexueller Verunsicherung. Das Ich ist ein Schlachtfeld, auf dem unwiderstehlich starke Begierden auf unverrückbare gesellschaftliche Zwänge treffen.
Im Phantasiereichtum der einfachen Formen, die entfernt manchmal an Comics erinnern und sich oft zu grotesken Figurationen kombinieren lassen, erweist sie sich als naive Künstlerin im besten Sinne, als Fabuliererin und Erzählerin. Die spinnwebartige fließende Linie beschreibt eine vollkommen selbst erfundene Landschaft von organischen Formen, die fast in intensiven weichen Farbflecken ertrinken. Ein Blick auf die Innenseite der Körper, nicht auf ihre Außenseite wird hier gegeben. Und doch ist alles mit der Präzision auf das Funktionieren des Bildes als Spiel und als Gesamtgestalt hin aufgebaut. In ihren wie Schautafeln anmutenden Bildern kommt es zu erstaunlichen Verdichtungen der Zeichen, deren Signal- und Funktionswelt in eine komplexe Bildwelt verwandelt wird.
Nirgends in ihrem Werk ist die Dynamik ihrer irrationalen Kraft stärker als in den Selbstbildnissen. Sie dokumentieren ihr Bemühen, mit sich selbst zu leben. Nirgends ist aber auch die Stärke ihres Willens bewegender, diese Kraft unter Kontrolle zu halten. Wie die Materialteile, die sie als objet trouvé – einen vom Künstler „gefundenen“ Gegenstand – ihren Arbeiten einfügt, so scheint ihr auch das Bild der Frau das wiedergefundene Menschenbild zu sein.
Der belgische Maler James Ensor hat sich umgeben von einer hässlichen und feindseligen Menge von Gesichtern und Masken dargestellt. Er scheint wie von einer Falle gefangen. Aber diese Gesichter nehmen von ihm keine Notiz, alle schauen aus dem Bild heraus und den Betrachter an. Ein Bild kann den Betrachter mit seinen eigenen Ängsten konfrontieren und ihm helfen, sie loszuwerden, indem er sie mit dem Künstler teilt, der sie überzeugender umsetzen kann als der Betrachter.
Auf allen Selbstportraits von Katinka Kaskeline deutet die Intensität des Blicks auf eine Selbstbefragung, die darauf gerichtet ist, hinter die sichtbare Oberfläche zu schauen. Sie hat ihre Jugendfotos mit geschmolzenem Kunststoff oder Transparentpapier überzogen und mit
verwischten, nervösen Strichen überarbeitet, so dass die Zeichnung die Theatralik des Gesichtes noch verstärkt und knapp vor der Monströsität haltmacht.
Diese vibrierende Farbstruktur aus nebeneinandergelegten Pinselstrichen gibt den Eindruck eines Menschen wieder, der sich verfolgt, ja gejagt fühlt. Schaut man ihre Selbstporträts der Reihe nach an, so drängt sich einem das Gefühl auf, man habe es mit Polizeifotos zu tun: Immer nur Kopf und Schultern, der Blick eines Menschen, in die Enge getrieben. Die Selbstverwandlungen der Künstlerin scheinen eine extreme Form des expressionistischen Portraits zu sein. Sie sind das Resultat einer Selbsterforschung, die bei Vincent van Gogh beginnt und von Oskar Kokoschka oder Egon Schiele mit seinen nackten und verformten Selbstbildnissen fortgesetzt wird. Kann man hier auch den Vergleich mit medizinischen Fotos von katatonischen Krampfzuständen mit ihren eingefrorenen Haltungen anstellen? Denn auch der Körper kann sich bei Katinka Kaskeline zu seiner eigenen Plastik verwandeln, „O.T.“, 2000, Mischtechnik, Gips, Schafsdarm. Man mag auch an die seltsamen Selbstportraits von Franz Xaver Messerschmidt denken, einem Wiener Bildhauer aus dem 19. Jahrhundert, der sein Gesicht zu Grimassen verzogen hat, um diese dann minutiös plastisch wiederzugeben. Die Künstlerin hat nicht nur ihr Gesicht zu einer perfekten gesellschaftlichen Maske umgeformt, sondern sie bekennt, dass beide unter der gleichen Neurose, den gleichen Bedrängnissen leiden.
Aber dann soll man auch wieder solche Arbeiten auf sich wirken lassen, die keine überladenen, vollgestopften Materialkompositionen mit ihrem lautstarken Kampf zwischen Flächigkeit und Körperhaftigkeit, sondern Bilder mit ihrer schwierigen Oberfläche aus Instabilität mitten in der peinlichsten Ordnung sind. So das titellose Bild von 2009, in dem die Wärme der scheinbaren Geborgenheit, die die Liege vermittelt, durch die klaustrophobische Enge des nackten Raumes aufgehoben wird. Man fühlt vor solchen Bildern kein Wohlbehagen, sie werden zum Sinnbild für Unbehagen, für Unsicherheiten, die mit poetischem Können aufeinander abgestimmt sind.
Melancholie, Schmerz, bittere Ahnung, Traum und Alptraum sprechen aus ihren Wustrow-Bildern von 2022, die sich tief ins Gedächtnis einprägen: Verfallene Gebäude in einer wild wuchernden Landschaft, die sich ihr Natur-Recht zurückerobert hat. Von der greifbaren Realität der Landschaft bewegt sich die Malerin hin zu einer nicht greifbaren, dem Licht. Sie hat sie in eine eigene Vision – in ihre innere Realität – verwandelt. In diesem geheimnisvollen Gesträuch scheint alles zu wachsen, sich zu entfalten, zu bewegen. Katinka Kaskeline hat immer wieder die verlassene Halbinsel Wustrow in der Mecklenburger Bucht aufgesucht, die, einst ein Naturparadies, zwischen den 1930er und 1990er Jahren erst von den Nazis, dann von den sowjetischen Streitkräften militärisch genutzt wurde und heute vom Sperrgebiet zum Geisterort geworden ist. Denn im Boden liegt noch Munition und die ruinösen Gebäude sind einsturzgefährdet. Sollte die mehr als 80 Jahre verbotene Insel Wustrow nicht wieder der Natur überlassen und alle Pläne eines künftigen Touristikzentrums vergessen werden, fragt bang die Künstlerin.
Katinka Kaskeline versteht es, in und hinter ihre Gesichter zu schauen, ihren Körpern eine herausfordernde Bedeutung zu verleihen, sie sieht deren Ängste, Obsessionen und Neurosen und vermag sie mit Phantasie und Kreativität umzusetzen. Selbst in ihren Wustrow-Bildern benutzt sie ihre schmerzvolle Wehmut und ihre Ängste, überhaupt die Intensität des eruptiv entstandenen Gefühls, als Quellen für ihr Werk und sucht so ein Gleichgewicht zwischen deren unbewussten und bewussten Gebrauch herzustellen. Sie bewegt sich auf der Grenze zwischen äußerer Wahrnehmung und Innenschau.
Katinka Kaskeline – Es ist Ich. Galerie ART CRU Berlin, Oranienburger Str. 27, Berlin-Mitte, dienstags und donnerstags 12–18 Uhr, mittwochs 14-18 Uhr, bis zum 13. Juli.
Schlagwörter: bildende Kunst, Galerie ART CRU, Katinka Kaskeline, Klaus Hammer