Nein, das war des Guten denn doch ein wenig zu viel. Auf dem Rückweg zum Parkplatz hatten wir Musik aus der geöffneten Stadtkirche vernommen und waren eingetreten. Wie wir den ausgelegten Blättern entnahmen, wollten in wenigen Minuten ein Chor, ein Blockflötenensemble, eine Handvoll Blechbläser und ein Organist Lieder zum Frühling zu Gehör bringen. Wir ließen uns nieder. Von Volksliedern bis zu Vivaldi war alles dabei, und die meisten Zuhörer im Kirchengestühl ließen sich punktuell zum Mitsingen animieren. Ein schöner, heiterer Abschluss eines sonnigen Ausflugs dachten wir. Und nun das! Nachdem tags zuvor auf nahezu allen deutschen Rundfunk- und Fernsehkanälen die Krönung eines zerknitterten Monarchen in London begleitet, kommentiert und bejubelt worden war, ereilte uns auch hier, eine Autostunde nördlich von Berlin, „God Save The King“. Zugegeben, ein wenig paraphrasiert von Christian Heinrich Rinck, einem Komponisten aus dem 19. Jahrhundert. Doch nach der gesungenen Mitteilung, dass alle Vögel schon da seien, wirkte die Verkündung jenes britischen Vogels so kurz vorm Abendsegen ein wenig aus der Jahreszeit gefallen. Aber sei’s drum, wir sind ja tolerant…
Zehdenick, das hübsche Ackerbürgerstädtchen am Rande der Schorfheide, ist, wie sich wieder einmal gezeigt hatte, immer eine Reise wert. Es lässt sich entlang der Havel gut flanieren und den Motor- und Hausbooten nachschauen, wie sie zwischen dem frischen Grün und unter blauem Himmel so ruhig dahintuckern, wie es die Zeit hier ebenfalls tut. Man kann den Booten auch aufs Dach oder Deck schauen, wenn man auf der Hastbrücke steht. Diese besteht nämlich aus einem hölzernen Fußgängerüberweg, den man über eine Treppe erklimmt, und einer Stahlbrücke aus zwei Teilen, die bei Bedarf hochgeklappt werden. Elektromotoren schlagen die beiden Straßenfragmente auf wie ein Buch. Und wenn sie senkrecht in die Höhe ragen, schippern die Freizeitkapitäne hindurch. Die Brücke ebenso wie die beiden anderen im Ort war am 28. April 1945 von Durchhaltekriegern gesprengt worden; es war eine der Idiotien, die Kriegsherrn immer zu befallen pflegen, wenn es dem Ende zugeht. Nach dem Krieg war auch diese Überquerung wieder aufgebaut worden. Seine jetzige Gestalt erhielt sie vor dreißig Jahren.
Die Gassen sind schmal und die Häuser gepflegt – bis auf jene, wo die Fenster blind oder eingeschlagen. Die Landflucht macht erkennbar keinen Bogen um Zehdenick, wovon auch der Leerstand bei den Geschäften kündet. Vor knapp zwanzig Jahren zählte man noch an die fünfzehntausend Menschen hier, inzwischen sind es anderthalbtausend weniger. Daran sind gewiss nicht die vergessenen Schilder schuld an manchen Türen ,„VEB [K] GBW Gransee“, sondern die Eigentums- und Besitzverhältnisse, die sich seither gravierend verändert haben. Einst gehörte Zehdenick zu den größten Ziegeleirevieren Europas. Berlins Baumaterial kam zu großen Teilen von hier. Es heißt, dass um 1900 über einhundert elektrisch (!) angetriebene Schiffe jährlich etwa zweihundert Millionen Ziegel- und Kalksandsteine in die Reichshauptstadt gebracht haben. Das erfährt man beispielsweise auf dem Museumsschiff an der Schleuse und im Ziegeleipark Mildenberg. Der einstige VEB Ziegelwerke Zehdenick stellte 1991 die Produktion ein. Auch andere Betriebe gibt es nicht mehr: die Bekleidungswerke, die Glasverarbeitung, die Schuhproduktion, die Mikroelektronik und dergleichen Arbeitergeber mehr.
Eine Ruine ist auch das Zisterzienserinnen-Kloster aus dem 13. Jahrhundert, das beim großen Stadtbrand 1801 ein Raub der Flammen wurde. Im Unterschied zum ersten Hochofen Brandenburgs, den der Große Kurfürst hier im 17. Jahrhundert hatte errichten lassen, stehen zumindest noch dessen Reste. Der Hochofen ist dennoch der Erwähnung wert, als dort fast hundert Jahre lang Kanonenkugeln fürs Preußenheer gegossen worden waren – um sich von Importen freizumachen.
Die Klostermauern aus Feld- und Ziegelsteinen sind überwuchert von Efeu und anderen Kletterpflanzen, es gibt einen Klostergarten mit den seinerzeit angebauten Kräutern und Nutzpflanzen. Ehe man aber eintaucht in dieses geschichtsträchtige Areal muss man vom Friedrich-Ebert-Platz zum Karl-Liebknecht-Platz schreiten. Auf der Fläche vorm Amtsgericht stehen zwei kräftig gestutzte Bäume, in denen aber noch ein Rest Leben steckt: Die meterdicke, aber innen hohle Gerichtslinde, mit vielleicht vierhundert Jahren der älteste Baum in der Stadt, und eine mit Tafel auf einem Findling gekennzeichnete „Moltke-Linde, gepflanzt 26.10.1900“. Welcher Moltke hier gegraben hat oder zu wessen Ehren der Baum gepflanzt wurde, warum und zu welchem Behufe, erfährt man nicht. Dahinter jedoch befindet sich ein Ehrenfriedhof, auf dem fünfzehn Sowjetsoldaten bestattet wurden, die ihr Leben im April 1945 hier verloren. „Ewiges Andenken den Kämpfern der Roten Armee, die gefallen sind im Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Heimat und der Völker Europas 1945“, steht auf einer Tafel. Die Anlage ist sehr gepflegt, die Wege frisch geharkt und der Rasen geschnitten – diese Selbstverständlichkeit ist angesichts des allgegenwärtigen Geschichtsrevisionismus und der wütenden Russophobie keineswegs selbstverständlich und darum der ausdrücklichen Erwähnung wert.
Vor dem historischen Gemäuer erhebt sich die Klosterscheune, der ursprüngliche Charakter ist unschwer zu erkennen an den großen Flügeltoren. Außen wie innen unverputztes Gemäuer, drinnen ein Musentempel seit der Jahrtausendwende. Ein einziger großer Raum mit Emporen an den beiden Stirnseiten und wunderbarem Holzgebälk überm Kopf. Hier finden Konzerte und Kino, Theateraufführungen und Ausstellungen, Lesungen und Workshops statt. Unter den vergleichbaren Einrichtungen im Lande gehört das Haus, studiert man Namen und Institutionen, die hier bereits Spuren hinterließen, zu den etwas arrivierteren Häusern, was sich auch in den aufgerufenen Eintrittspreisen mitteilt. Ausstellungen aber sind gratis. Aktuell ist „Buschdorf-Kunst“ zu sehen. „Busch sagt man bei uns zum Wald, und weil unsere Dörfer mitten im Wald liegen, heißen sie Buschdörfer“, teilt die Künstlergruppe selbstironisch mit. Hinterwäldlerisch und provinziell ist das keineswegs, was da an Bildern (Frank Suplie, Eberhard Ugowski, Britta Bastian, Sabine Schmalz, Ulrike Lachmann, René Cantagrel, Evgenija Thieler und Petra Elsner), Fotos (Peter Oehlmann und Simone Weigelt), hölzernen Tiermasken (Lutz Kittler) und Kunstwerken aus Schrott (Siegfried Haase) sowie Texten und kleinen Bildchen vom Daumenkinographen Volker Gerling und mit Büchern von Manfred Lentz demonstriert wird. Da ist viel Witz, viel Sarkasmus, reichlich intelligenter Hintersinn zu sehen, auch scheinbare Idylle, die aber politisch durch und durch ist. Frank Suplie, Jahrgang 1950, der gemeinhin Alltagsszenen malt und darum nicht grundlos sich dem Verband Realistischer Maler Norddeutschlands – was es nicht alles gibt – zugesellt hat, zeigt eine hügelige Landschaft mit einem Gewässer. Über allem wölbt sich blauer Sommerhimmel, man meint die Vögel zwitschern zu hören und das Singen der Grillen. In dieses farbige Wohlfühlpanorama drängt sich grau und wuchtig, mit dem Gedröhn von vier Propellertriebwerken ein Flugzeug. Genauer: eine Transportmaschine. Die Fahrwerke sind ausgefahren, die Maschine setzt zur Landung an – irgendwo außerhalb des Bildes muss der Militärflughafen sein, auf dem mörderische Fracht aus- oder eingeladen wird. Der kolossale Flieger rast auf den Betrachter zu, drängt nach vorn, dominiert das Bild, obgleich er nicht einmal ein Viertel der Fläche ausmacht. Braucht es eines Kommentars?
Oder Siegfried Haases Skulpturen. Da sitzt ein Männchen aus Schrott auf einem zerklüfteten Klumpen Stein, leblos, unförmig, tot der punktuell glasierte Batzen. „Am Anfang war die Erde wüst und leer“, steht auf dem Blatt auf dem Holzsockel. Nun tun wir alles dafür, dass dieser in der Bibel beschriebene Zustand neuerlich eintritt. Haase hat Hoffnung. „Vielleicht wird sie wieder.“
Ein Ausflug nach Zehdenick lohnt sich. Insbesondere im Frühling. „Der Winter ist vergangen, ich seh des Maien Schein. / Ich seh die Blümlein prangen, des ist mein Herz erfreut“, sang der Chor in der Stadtkirche. Wie realistisch und bescheiden doch der Volksmund selbst bei Kaiserwetter ist.
„Buschdorf-Kunst“ in der Klosterscheune Zehdenick, Malerei, Fotografie, Plastik, Installationen von dreizehn Künstlern aus der Umgebung, zu sehen bis 25. Juni, geöffnet mittwochs bis sonntags von 13 bis 17 Uhr, Eintritt frei.
Schlagwörter: Buschdorf-Kunst, Jutta Grieser, Zehdenick, Zisterzienserinnen-Kloster