Zaungucker
Wir fassen uns und können es nicht fassen:
Hier sind wir wer, wir sind allein. Gelassen
ist nur der schnee, taut unterm fuß hinweg –
embleme, zeichen einer macht im dreck.
Sind wir denn kinder? Sind wir ausgesetzt
am markt, mit rotem heller strafversetzt?
Nichts spricht uns frei, wir haben laut geschwiegen,
sind hungrig, greifen alles, was wir kriegen,
und stopfen zuckerwatte in uns rein,
die liegen bleibt und drückt und wird zu stein.
Ich grab die hand mir in die tasche, grab mich ein
und schließ den mund, um stumm herauszuschrein.
SIE RIEF AN
das birkenwäldchen ist jetzt weg sprach sie ich sah
auf dem schutzglas ihr lächelndes bild
weißt du noch dort hinter den gärten wo die knykawki
die pflaumenbäume wachsen eimerweise hab ich
die früchte gesammelt mus gekocht
dir pflaumenbäume sind jetzt weg sprach sie ich sah
auf dem schutzglas ihr lächelndes bild
wir dürfen den garten nicht mehr betreten
du weißt doch der gehörte den Schulzens
bevor sie verkauften dort wird schon gebaggert
sie haben öfen freigelegt aus der erde sprach sie ich sah
auf dem schutzglas ihr lächelndes bild
knapp unter der rasenkante ein napoleonisches lager
da darf keiner hin aber abends geh ich doch
sie haben holzkisten gehoben sprach sie ich sah
auf dem schutzglas ihr lächelndes bild
vier meter tief gräber und eine siedlung
das gebiet ist abgeriegelt aber ich komme durch
sie fassten mich und rein zum verhör sprach sie ich sah
auf dem schutzglas ihr lächelndes bild
wenn wir gestorben sind wo wird ein platz für uns sein
sie legte auf
Róža Domašcyna lebt in Bautzen, schreibt Gedichte in sorbischer und in deutscher Sprache, ist auch Übersetzerin vor allem slawischer Lyrik, Mitglied des P.E.N.-Zentrum Deutschlands und der Sächsischen Akademie der Künste. Ihr erster Gedichtband in deutscher Sprache erschien 1991 im von Gerhard Wolf gegründeten Verlag Janus press unter dem Titel „Zaungucker“, aus dem das gleichnamige Gedicht stammt. „SIE RIEF AN“ ist bisher unveröffentlicht. Beide Übernahmen mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Schlagwörter: Poesie, Róža Domašcyna, sorbische Lyrik, Zaungucker