Bundesaußenministerin Annalena Baerbock äußerte sich nach dem Sturm auf die Parlamentsgebäude in Brasilien vor nicht allzu langer Zeit im Namen der deutschen Bundesregierung öffentlich: „Egal, wo auf der Welt Demokratien angegriffen werden, ist dies immer auch ein Angriff auf unsere Freiheit und unsere Werte.“ Auch die langjährige Bundeskanzlerin Angela Merkel griff in ihrer ersten Regierungserklärung im Jahr 2005 Willy Brandts legendäre Worte „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ auf und fügte hinzu: „Und ich ergänze, lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!“ Solche verbalen Ermutigungen gehören zum guten Ton gesamtdeutscher Spitzenpolitiker. Besonders gerne beruft man sich an offiziellen Gedenktagen verbal auf die Freiheit und die Freiheitskämpfer gegen die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts.
Doch was konkret sind unsere Werte heute? Als deutscher Verfassungspatriot bekenne ich, es sind die Werte unseres Grundgesetzes, insbesondere die Grundrechte der Bürger. Worauf basieren diese Werte? Auf der abendländisch christlich-jüdischen und humanistischen Tradition Europas. Zu letzterer zählen insbesondere die fünf Ideen der Aufklärung, also mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht. Als anerkannt politisch Verfolgter Schüler des SED-Regimes war und bleibt für mich als Erwachsener ganz besonders bedeutsam: Das emanzipatorische Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. Unvergessen und emotional bewegend empfinde ich deshalb heute noch den vom Geläut der Schönberger Freiheitsglocke fast heilig verkündeten Freiheitsschwur, der seinerzeit über meinen liebsten Westberliner Radiosender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) auch zu mir in den Sowjetsektor Berlins wöchentlich herüberschallte: „Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde.“
Doch mein Glaube wurde am 8. Mai schwer erschüttert. Es scheint gerade so, dass im Land Berlin alle Menschen gleich, doch manche noch gleicher sein dürfen. Denn bei den Feierlichkeiten zum heute in der gesamten Bundesrepublik und nicht mehr nur in der damaligen DDR so bezeichneten Tag der Befreiung am 8. Mai blieben die Fahnen der Befreier Berlins verboten. Menschen, die an den sowjetischen Ehrenmälern den gefallenen sowjetischen Soldaten die letzte Ehre erweisen wollten, war es verboten, dort mit gesenkten Flaggen der Sowjetunion oder den Fahnen des völkerrechtlich unbestrittenen Rechtsnachfolgers der UdSSR, der Russische Föderation, vorbei zu defilieren. Das Senken von Fahnen als äußeres Zeichen der Ehrerbietung für gefallene Kameraden hat weltweit – auch in unserer Bundeswehr am Volkstrauertrag – eine langjährige Tradition. Die sowjetische Flagge, die Rotarmisten am 2. Mai 1945 auf dem Berliner Reichstagsgebäude als Banner des Sieges hissten, wurde ihnen posthum durch einen formaljuristischen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg ohne eine vertiefende materiellrechtliche Prüfung der historischen, verfassungsrechtlichen und soziopsychologischen Fakten wieder aus den Händen gerissen. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte in seinem Beschluss vom 8. Mai 2023 eine entsprechende versammlungsrechtliche Allgemeinverfügung der Polizei Berlin zum 8./9. Mai 2023, nach der das Zeigen sowjetischer Symbole, der Flaggen der UdSSR und/oder der Russischen Föderation verboten wurde. Dagegen wäre zwar ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wegen eventueller Grundrechtsverletzungen beim Bundesverfassungsgericht möglich gewesen, doch offenbar hat ihn niemand gestellt. Ein zeitnahes eigenes Nachlesen der gesamten Begründung des Verwaltungsgerichts ist mir nicht möglich, da die gemeinsame Entscheidungsdatenbank Berlin-Brandenburg zum 31.12.2020 eingestellt worden war.
So bleiben bei mir Fragen offen. Erstens: Wenn es ein Grundrecht ist, sich in Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges zur ukrainischen Nation zu bekennen und die Nationalfarben des heutigen ukrainischen Staates zu zeigen, wie soll es verfassungsrechtlich mit unserem Grundgesetz zu vereinbaren sein, sich dann nicht auch in Gedenken an die Kriegstoten der russischen Nation zu bekennen und aus Respekt vor den Kriegstoten die Nationalfarben des heutigen russischen Staates und Rechtsnachfolgerstaats der Sowjetunion zu zeigen? Grundrechte sind unteilbar! Ihre Einschränkung unterliegt strengen Kriterien.
Zweitens: Während zeitgleich in Moskau, der Hauptstadt des damaligen Siegerstaates, deutsche Flaggen am 8. und 9. Mai auf dem Roten Platz und an jeder deutschen Kriegsgräberstätte in der Russischen Föderation hätten gezeigt werden dürfen, war zeitgleich in der Hauptstadt des damals besiegten Staates das Zeigen der Fahnen der damaligen Befreier verboten. Wem nutzen solche symbolträchtigen Nachrichten mehr, dem Wachstum unserer freien Debattenkultur oder der „Abteilung PR & Propaganda“ des Kremls?
Drittens: Wie verträgt sich dieses Flaggenverbot mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nach dem Abkommen vom 16.12.1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Russischen Föderation über Kriegsgräberfürsorge und allen weiteren damit einhergehenden zwischenstaatlichen Vereinbarungen?
Viertens: Was würden der deutsche „Kanzler der Einheit“ Helmut Kohl und der damalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow zu diesem Flaggenverbot sagen, wenn sie heute noch leben würden? Beide waren doch trotz der unterschiedlichen ideologischen Positionen freundschaftlich miteinander verbunden.
Ich warne eindringlich vor einem offenbar umgreifenden Shifting-Baseline-Syndrom in der generationsübergreifenden historischen Wahrnehmung in Deutschland in Bezug auf die deutsche und europäische Vergangenheit des 20. Jahrhunderts und ihrer fortwährenden Ausstrahlung auf alle Lebensbereiche, den juristischen davon nicht ausgenommen. Ob Amerikaner, Briten, Deutsche, Franzosen, Russen oder Ukrainer: Alle Kriegstoten des Zweiten Weltkrieges, viele davon noch im jugendlichen Alter, verdienen in einem demokratischen Gemeinwesen den gleichen Respekt.
An diesem 8. Mai hat in Berlin, symbolisch gesprochen, der Westen die Flagge seiner eigenen Werte eingeholt. We agree to disagree. Besinnen wir uns dieses essentiellen Grundsatzes der Meinungsfreiheit wieder und führen verbal hitzige und kontroverse Debattenschlachten des freien Wortes, oder erschlagen wir uns im heißen Hass gegenseitig mit den Argumenten des physisch Stärkeren? Im Tode wären wir alle gleich tot. Mein Wunsch zum 8. Mai im nächsten Jahr für Deutschland und Europa ist deshalb: Wider das Vergessen, denn die Toten mahnen uns noch immer! Nie wieder Krieg – kein Krieg zwischen dem deutschen, dem russischen und dem ukrainischen Volk! Machen wir Deutschen die Welt besser dadurch, dass wir bei uns selbst anfangen, unsere Werte anderen voll und ganz durch eigenes Tun zu Hause friedlich und im gegenseitigen Respekt vorzuleben.
Schlagwörter: Flaggenverbot, Meinungsfreiheit, Stephan Giering, Tag der Befreiung