26. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Anne-Marie die Schönheit“ – Deutsches Theater Raum 315 / „Die Möwe“ – Schaubühne.

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DT: Leben im Nebenrollen-Einsatz

Sie steht am Fenster, leicht gekrümmt, müde, in sich gekehrt. Und schaut hinaus ins Dämmernde (oder ist es schon Dunkel?).

Tja. Alle sind sie nun tot. Nein, der Sohn ist noch. Ist aber nicht da. Ist fort. Und alle andern tot: Ehemann, Hausarzt, Freunde und Kollegen – auch Verehrer – von früher, als sie am Stadttheater war. Schauspielerin! Nein, nicht vorn an der Rampe. Immer zweite Reihe, oder dritte. Nicht wie Giselle. Die bewunderte, geliebte, immer vorn im Licht strahlende ferne Freundin mit den tollen Männern, den tollen Regisseuren, den tollen Rollen und dem tollen Aufstieg bis hin zum Film. Doch die Gigi, die ist nun auch tot.

Aber Anne-Marie lebt. Ist doch schön. Eigentlich. Und abgesehen von den kaputten Knien, den zitternden Gliedern, der Schlaflosigkeit, der Einsamkeit. „Ich hatte ein Filmgesicht“, sagt sie und geht zum Waschbecken, guckt in den Spiegel, trinkt was aus dem Zahnputzglas. „Ich hatte ein glückliches Leben.“

Sagt sie; glaubt es aber selbst nicht recht. Doch warum nicht ein bisschen träumen? Warum dieses lange, lange Leben mit dem Theater, der Ehe, den unerfüllten Wünschen, weggesteckten Enttäuschungen und dem tapfer begeisterten Durchhalten sich nicht ein Quantum schöner, womöglich glamouröser zurecht zu träumen?

Im Grunde aber ist ihr klar: Der früh schon aufkeimende, lebenslang lodernde Traum vom Ruhm im Rampenlicht, der versandete alsbald. Kein Star was born. Immer traf’s andere, zum Beispiel Gigi. Für Anne bloß Nebenrollen-Einsatz auf Provinzbühnen. Was für ein Leben! Freilich nicht gänzlich unerfüllt – aber weitgehend. Davon erzählt Jasmina Reza, die weltweit meistgespielte Gegenwartsautorin im Monolog einer Schauspielerin unter dem signifikant sarkastischen Titel „Anne-Marie die Schönheit“. Denn schon allein das mit der Schönheit, das bleibt, galant gesagt, dahingestellt.

Wie so vieles in Anne-Maries dahin perlendem oder auch vor sich hin stockendem, zuweilen tüttelich plapperndem, nur selten larmoyantem, dafür umso öfters spitzhumorig aufblitzendem Redefluss.

Die Reza hat ihren wehen 79-Seiten-Text „aus Gründen der Distanz und Allgemeingültigkeit“ für einen Mann geschrieben. Jetzt, im extra installierten Studio unterm Dach des Deutschen Theaters, ist das Helmut Mooshammer, der im nur scheinbar paradoxen Gegensatz zu Anne-Marie und – wie gewünscht von der Autorin – selbst ein großer Künstler ist.

Mooshammer in blass-braunem Rock, dunkelrot-schlabbrigem Pullover, Krücke und fußfreundlichen Schlappen an den Beinen (Kostüm: Henrike Huppertsberg) kommt auf sozusagen leisen Sohlen daher (Regie: Friederike Drews). Mit schauspielerischem Minimalismus, der alles auf Sprache, Stimme, Gesichtsausdruck und sparsam eingesetzter Gestik setzt. Der das Gebrechliche dieser tragisch umflorten Figur zeigt, das Depressive, aber auch Euphorische, das freilich rasch wieder zusammenfällt ins Resignative. Eine feine Mischung aus sanfter, auch schmerzlicher Melancholie und kess-koketten Momenten trotzigen Auftrumpfens.

Was für eine aufregende, ja erschütternde und auch wieder komisch-groteske Studie, ohne wohlfeil mit Psychologie, mit schauspielerischem Virtuosentum zu schäumen.

Mooshammer könnte es lässig, das Effektheischende. Blickt er doch selbst zurück auf ein langes Schauspielerleben, das all das hat, was Anne-Marie nie bekam. Und feiert mit dieser tollen Rolle den Abschied vom DT.

Also keine schillernde Sentimentalität, kein pathetisches Tränenwischen und schon gar keine ironisch äffende Travestie. Mooshammer macht diese gekrümmte, müde Schauspielerin, die in der Dämmerung ihres Daseins noch einmal aufgeregt oder abgeklärt von sich selbst sozusagen abschließend redet, zu einer ins Allgemeine ragenden Figur. – Eine zärtliche Hommage aufs Leben, wie krumm auch immer es spielt; diesseits oder jenseits vom Theater. Berührend. Lebensklug. Vielleicht tröstlich.

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Schaubühne: Künstlertreff unterm Großgehölz

Wow! Eine der mächtigen Platanen draußen auf dem Kudamm überspannt jetzt den gesamten Saal B der Schaubühne. Allseits bestaunter Hyperrealismus für Tschechows „Möwe“. Wie vor 39 Jahren der Birkenwald für Tschechows „Drei Schwestern“. Ein Gruß samt Vogelgezwitscher und Regenschauer von Regisseur Thomas Ostermeier und Bühnenbildner Jan Pappelbaum zurück an Peter Stein und Karl-Ernst Herrmann, die einst in diesem herrlichen Haus mit einem ebensolchen Ensemble und einer psychologisch unglaublich fein gesponnenen Inszenierung der „Drei Schwestern“ unvergesslich Theatergeschichte schrieben.

Dazu passten eben so wunderbar poetisch die flirrenden Birken, unter denen sich eine nervös-melancholische altrussische Datschengesellschaft traf, die mit ihrem althergebrachten Dasein haderte, sich unerhört gegenseitig verliebte, die sinn- und glücksuchend auf- und ausbrechen wollte, aber dann doch traurig sitzen blieb unter Birken.

Grundsätzlich ist das heutzutage genauso wie vor 39 oder 127 Jahren: Man will Neues, Eigenes, will lieben und geliebt, geachtet und erfolgreich werden. Kurz: Will ein erfülltes Leben. Und dann klappt’s nicht. Dann liegen die Nerven blank, die Seelen wund; was komisch sein kann und zugleich tragisch. Solche Menschengeschichten zwischen Höhenflügen und Abstürzen erzählt Tschechow – gefühlt ganz heutig – sehr genau, nüchtern und mit poetisch fein getönter Empathie in seinen Stücken – wie eben in der „Möwe“ anno 1896.

Doch das Jahr spielt letztlich keine Rolle, auch wenn Ostermeier gemeinsam mit seinem Ensemble den Originaltext in der Übersetzung von Ulrike Zemme gelegentlich angereichert hat mit zeitgenössischen Bemerkungen.

Befinden wir uns doch jetzt auf einem märkischen Landsitz mit Künstlern verschiedener Art im Mittelpunkt. Da ist die routinierte Schauspieldiva Arkadina (Stefanie Eidt als freches Dummchen), ihr Sohn Kostja (Lorenz Laufenberg), ein um „neue Formen“ ringender, hysterischer Jungdramatiker, ihr Liebhaber Trigorin (Joachim Meyerhoff), ein von Schreibkrisen geschüttelter, egomanischer Erfolgsschriftsteller, und Nina (Alina Vimbai Straehler), gleichfalls nach Ruhm gierende täppische Laienschauspielerin, die Kostjas rührend albernes Avantgarde-Weltuntergangsdrama „Die Möwe“, das sie freilich „zu konzeptuell, zu leblos“ findet, unter der Platane uraufführen soll.

Das grotesk „kunstrevolutionäre“ Unternehmen mit Kostja als hampelnd hasenhaftem Pantomimen, verkleidet im Nylon-Ganzkörperkondom, versinkt vorschnell in Lächerlichkeit, wofür obendrein die verächtlichen Zwischenrufe der zickigen Frau Mama sorgen. Überhaupt fallen in diesem Zusammenhang diversen aktuellen Diskursen flugs entnommene Bemerkungen über Sinn oder Unsinn des Theaters, über wokes Gehabe, über das dumme Alte und das packend Neue und umgekehrt, was witzig-journalistisch ist. Außerdem sind alle – und noch dazu Mascha (Hevin Tekin), das schwerst gefühlsverletzte, früh verbitterte Töchterlein des rotzig rohen Hausverwalters Semjon (David Ruland) – sind alle unerfüllt überkreuz ineinander verknallt. Was die Komödie in vier Akten böse enden lässt.

Insgesamt bleibt die Regie überraschend dicht an Tschechow. Freilich nur an dessen Plot, nicht aber am raffiniert instrumentierten Zusammenspiel dieses Einsamkeitskollektivs, dessen vielfältig verrückte Ambivalenzen eher verdeckt bleiben anstatt dass sie aufregend ausgespielt werden.

So inszeniert Ostermeier sehr gekonnt ein Leporello ironisch-komödiantischer, bis ins köstlich klamottige getriebener Sketche. Durchaus unterhaltsam. Doch entsteht kein dramatischer Sog. Keine Dringlichkeit. Keine wirklich spannende Geschichte. Die vielen kleinen und großen Tragödien, das viele Wollen aber nicht Können verblasst, geht uns nicht an die Nieren, fasst nicht ans Herz. Hier flirrt nichts unter Birken. Hier trampelt und torkelt jeder für sich unter dem Platanen-Monument, das zuletzt noch – hahaha! – von Trigorin angepinkelt wird.

Apropos Joachim Meyerhoff, im Privaten selbst Bestseller-Autor, als Trigorin: Dem Schaubühnen-Superstar gönnt die Regie eine opulente Extra-Nummer als selbstverliebtes Vielschreib-Genie, das schwelende Versagensängste mit Koketterie überspielt und seine Texte mühselig aus Karteikarten mit Wirklichkeitsbeobachtungen zusammenschraubt. Ein verzweifeltes Herrchen seiner Lebenslügen. Und ein verschämt dreister Frauenverführer dazu. Da blitzt unter schuftigem Charme und zynischem Grinsen erschreckend das schnöde Menschenelend durch.