26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Niemand ist vergessen

von Jutta Grieser

Im nasskalten, dunklen Winter ist Gevatter Hein besonders aktiv, heißt es. Die Statistik bestätigt das. Unter jenen Menschen, die im Februar gingen, waren gleich drei Männer, die im Zentralkomitee der SED eine Abteilung leiteten. Keine unbedeutende Funktion in der politischen Hierarchie des untergegangenen Landes. Als Erster verabschiedete sich Hans Modrow.  Er hatte von 1967 bis 1973 die Abteilung Agitation geleitet und war in dieser Funktion der Intimus von Werner Lamberz. Danach schickte ihn Erich Honecker nach Dresden. Als Honecker abtrat, holte man Modrow wieder nach Berlin. Die Volkskammer wählte ihn im November ’89 zum Vorsitzenden des Ministerrats der DDR. Als er am 10. Februar verstarb, stellten die Medien heraus: der letzte Premier mit SED-Buch. Der tatsächlich letzte Ministerpräsident des Landes war Lothar de Maizière, der gehörte der CDU an.

Der zweite ZK-Abteilungsleiter, der am 22. Februar die Augen schloss, war Bruno Mahlow. Von seinem Ableben nahm kaum ein Medium Notiz. Mahlow hatte im Herbst ’89 die Leitung der Abteilung Internationale Verbindung übernommen, die der studierte Diplomat seit 1973 bereits als Stellvertreter führte. Sein Gesicht war aufmerksamen Zeitungslesern und Betrachtern von Protokollbildern bekannt, nicht aber sein Name. Wenn Honecker alljährlich im Sommer auf die Krim reiste, um unter vier Augen mit dem sowjetischen Parteichef zu konferieren, war Mahlow mit dabei. Nicht nur um zu dolmetschen. Er war 1937 als Kind deutscher Emigranten in Moskau geboren worden und nicht nur mit der Sprache des Landes vertraut. Und obwohl seine schwangere Frau von gewalttätigen Roten Garden während der Kulturrevolution niedergeschlagen wurde – Mahlow arbeitete Mitte der sechziger Jahre an der DDR-Botschaft in Peking –, beeinträchtigte dies sein gutes Verhältnis zu China nicht. Möglicherweise bestand Mahlows größte politische Tat darin, Interkit platzen zu lassen. Moskau rief diese antichinesische Internationale ins Leben, um die Bruderparteien diesbezüglich auf Linie zu bringen. Jährlich kamen die Leiter der zuständigen ZK-Abteilungen zusammen, um einem von Moskau vorbereiteten Protokoll zuzustimmen, in dem Maos China als abtrünnig und imperialistisch und damit zum Feind des Sozialismus erklärt wurde. 1982 verweigerte der Leiter der SED-Abordnung erstmals seine Unterschrift. Nun war dies gewiss kein Alleingang Bruno Mahlows. Hinterher richtete der Kreml sein Feuer auf dessen Chef Honecker (der dann 1983/1984/1985 nicht in die Bundesrepublik reisen durfte – aber das ist eine andere Geschichte). Mahlows Beispiel machte Schule. Bei den nächsten Konferenzen unterschrieben Abteilungsleiter aus anderen Parteien auch nicht. 1987 war damit Interkit tot.

Am gleichen Tag wie Bruno Mahlow starb Gregor Schirmer. Kein Nachruf in keiner Zeitung. Einzig die Junge Welt teilte in einer kleinen Meldung mit, dass der im Herbst ’89 zum Leiter der Kommission für Wissenschaft und Bildung beim Politbüro des ZK der SED berufene langjährige Vizechef der Wissenschaftsabteilung mit 90 Jahren verstorben sei.  Schirmer war 1950 aus seiner Geburtsstadt Nürnberg in die DDR geflohen, hatte Jura an der Leipziger Karl-Marx-Universität studiert, nach einem Zusatzstudium zum Völkerrecht an der Humboldt-Universität promoviert und in Jena sich habilitiert. Er saß bereits vierzehn Jahre für den Kulturbund in der Volkskammer, als er 1977 stellvertretender Abteilungsleiter im ZK der SED wurde.

Schirmer war ein sensibler Akademiker. In seinen 2015 erschienenen Erinnerungen („Ja, ich bin dazu bereit“ schrieb er, dass ihn die Frage „wohl bis an mein Lebensende« beschäftigen werde, ,was wir im ZK-Apparat hätten tun können, sollen, müssen, was ich persönlich hätte anders machen sollen'“.  Die Einsicht, dass Erich Honecker abgelöst werden musste, „reifte im Apparat spätestens nach dem XI. Parteitag im April 1986 heran“. Aber unternahm man was? „Es obsiegte die eingeübte Haltung“ und das Land ging den Bach runter. Ist das heute anders?

Schirmers letzte Arbeit beschäftigte sich mit dem „Vertrag von Versailles und anderen Unfriedensverträgen“. Sie erschien hundert Jahre nach jenem unseligen Vertrag, der bereits den Keim des nächsten Krieges in sich trug. Gregor Schirmer war schon von Krankheit gezeichnet, aber das wollte der Völkerrechtler noch einmal festgehalten wissen: „Immer wenn die SPD-Führung – auch gegen den Widerstand der eigenen Basis – zu Kreuze kroch, wurde die ‚verdammte Pflicht und Schuldigkeit‘ ins Feld geführt, jene diffuse vaterländische Verantwortung, der man sich angeblich nicht entziehen konnte“. Der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert feierte „den Eintritt der ursprünglich linken Arbeiterpartei in die kaiserliche Regierung am 5. Oktober 1918 als ‚Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands‘ und als ‚Geburtstag der deutschen Demokratie‘.“

Schirmer nahm noch wahr, dass Eberts Nachfolger in der SPD im Februar vergangenen Jahres ebenfalls eine Zeitenwende ausrief: „Wir nehmen die Herausforderung an, vor die die Zeit uns gestellt hat – nüchtern und entschlossen.“ Sprach Scholz in seiner Regierungserklärung und davon, dass man Putin daran hindern müsse, „die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts“.

Modrow, Schirmer und Mahlow, drei herausragende Köpfe des Ancien Régimes und Jahrhundertzeugen, wunderten sich nicht über Demagogie und Geschichtsvergessenheit. An dieser Uhr hatten schon ganz andere und sehr viel früher gedreht als der Russe. In diesem Sinne äußerten sie sich in Reden, Texten, Leserbriefen. Und die Reaktionen folgten auch einer Tradition. Mahlow bekam wenige Tage vor seinem Ableben noch eine Vorladung der Staatsanwaltschaft. Ihm wurde vorgeworfen, er habe mit einem Kommentar gegen den Paragrafen 140 des Strafgesetzbuches verstoßen. In seinem inkriminierten Text hatte Mahlow vor der Gefahr eines Dritten Weltkrieges gewarnt und die Einseitigkeit der deutschen Medien kritisiert. „Es stimmt mehr als bedenklich, dass die zugelassene Hetze gegen Russland auch direkt zur Förderung einer Hetze Deutsche gegen Deutsche führt.“  140 StGB, wer’s nicht parat hat, nennt sich „Belohnung und Billigung von Straftaten“. Der Tod war bei Mahlow schneller als der Staatsanwalt.

Diesen drei Ex-Politikern war die schärfste Waffe zugedacht, die die Mediengesellschaft bereithält: die Ignoranz. Modrows Ende zu übergehen ging nicht ganz, er war – zumindest für Monate – Widerpart des „Kanzlers der Einheit“. Aber Mahlow und Schirmer waren keine Erwähnung wert. Sicherlich hängt das auch mit der allgemeinen Geschichtslosigkeit dieser Gesellschaft zusammen. Aber ursächlich ist gewiss das kollektive Bemühen, diese DDR und ihr Personal vergessen zu machen. Wie das Land sollen auch diese Leute im Orkus verschwinden.

Da machen wir aber nicht mit, da widersetzen wir uns. Nichts und niemand wird vergessen.