26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

La Divina

von Mathias Iven

Gemeinsam mit Hans Werner Henze besuchte Ingeborg Bachmann Anfang 1956 drei Opernabende in der Mailänder Scala, darunter die Generalprobe zu Luchino Viscontis Inszenierung von Verdis „La traviata“. Sie war überwältigt. An ihren Verleger Klaus Piper schrieb sie, diese Aufführung sei „bei weitem das Schönste, was [sie] je auf einer Opernbühne gesehen habe“. Sie hatte, was ihr unvergesslich bleiben sollte, die Callas singen hören. In der Jahre später entstandenen und leider unvollendet gebliebenen „Hommage à Maria Callas“ erinnerte sie sich: Diese Sängerin war „groß im Hass, in der Liebe, in der Zartheit, in der Brutalität“. Und nicht nur das. „Sie war das letzte Märchen, die letzte Wirklichkeit, deren ein Zuhörer hofft, teilhaftig zu werden. […] Sie war der Hebel, der eine Welt umgedreht hat, zu dem Hörenden, man konnte plötzlich durchhören durch die Jahrhunderte, sie war das letzte Märchen.“ – So, wie es damals Ingeborg Bachmann erging, sollte es bis heute noch unzähligen Opernbegeisterten ergehen. Die unnachahmbare Stimme der Callas vergisst man nicht.

Schon zu Lebzeiten wurde die am 2. Dezember 1923 im New Yorker Stadtteil Washington Heights als Tochter griechischer Einwanderer geborene Maria Anna Sophia Cecilia Kalogeropoulou zur Legende, wenn nicht gar zum Mythos. Und oft genug wurde seither die Frage aufgeworfen: Was hat diese Sängerin so einmalig werden lassen? Auch die Münchner Autorin Eva Gesine Baur sucht in ihrer pünktlich zum anstehenden Centenarium vorgelegten Biographie darauf eine Antwort.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die wichtigsten Karrierestationen von Maria Callas. Bereits mit acht Jahren bekommt sie ihre erste Gesangsausbildung. 1936, nach der Scheidung der Eltern, geht sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Griechenland. In Athen wird sie anfangs von Maria Trivella unterrichtet. Mit einem Erfolg, wie diese ihn noch nie erlebt hatte. „Nach sechs Monaten“, erinnerte sich die Lehrerin später, „sang sie die schwierigsten Arien eines internationalen Opernrepertoires mit höchster Musikalität.“

Sie ist vierzehn, als sie zum ersten Mal ein Opernhaus betritt. Am Abend des 2. Februar 1938 steht „La traviata“ auf dem Programm des Königlichen Theaters Athen. Wie gebannt verfolgt Maria das Geschehen auf der Bühne, vergisst alles um sie herum. Maria, meinte ihre Schwester Jackie, „sah und hörte gar nicht, was auf der Bühne passierte, sie sah und hörte dort oben nur sich selbst, ihre eigene Zukunft“. Noch im selben Jahr wird sie nach einem furiosen Auftritt vor mehr als 400 Zuhörern im Rahmen eines Konzerts der Opernklasse des Athener Konservatoriums Schülerin der spanischen Sopranistin Elvira de Hidalgo, die einstmals selbst auf den großen Opernbühnen der Welt geglänzt hatte. Marias Stimme bringt in ihr „eine unbekannte Saite zum Klingen“, jeder Ton war bis zum Äußersten „voll Drama und Emotion“.

Im März 1945 tritt sie noch in Athen zum ersten Mal als Callas auf, allerdings als Mary Callas. Die Verwirrung um den Namen hält an: Ein halbes Jahr später reist sie als Mary Kalos in die USA, um ihren Vater zu besuchen und dort ihre Karriere zu beginnen. Als Mary Kalos betritt sie, eingeladen zum Vorsingen, im Dezember 1945 zum ersten Mal die New Yorker Metropolitan Opera. Für Edward Johnson, den General Manager der MET, ist ihre Reaktion auf sein Angebot ein Affront. „Er habe ihr einen Dreijahresvertrag angeboten und erklärt, sie müsse mit kleinen Rollen anfangen, sich im zweiten Jahr nach oben arbeiten, im dritten könnte sie dann vielleicht schon eine tragende Partie bekommen. Ein Anfängervertrag für sie, einen Weltstar? Maria Kalos hatte abgelehnt.“

Unbeirrt geht die Callas ihren Weg: 1947 gibt sie ihr Italien-Debüt in der Arena di Verona, im selben Jahr steht sie in Venedig auf der Bühne des Teatro La Fenice. In den nächsten Jahren ist sie in Mexiko und den USA unterwegs, am 12. Februar 1950 endlich der ersehnte Auftritt in der Scala. Dort tritt sie am 10. Dezember 1953 als Medea vor ihr Publikum. Unter den Zuhörern Franco Zeffirelli. Nicht nur für ihn geschah an diesem Abend etwas Unerwartetes: „Als es vorbei war, wussten wir, die Welt der Oper hatte sich verändert. Es gab nun so etwas wie eine neue Zeitzählung: v. C. und n. C. – vor Callas und nach Callas.“

Parallel zu ihrer Opernkarriere entstehen die ersten Plattenaufnahmen, legendär bis heute die „Tosca“ von 1953. Marias Partner waren Giuseppe di Stefano und Tito Gobbi, am Pult stand Victor de Sabata. Sein Urteil über das, was in den Tagen zwischen dem 10. und 21. August entstand, fasste er in einem Satz zusammen: „Wenn die Leute wüssten, wie tief und äußerst musikalisch Maria Callas ist, sie wären fassungslos.“ Niemand ahnte, dass diese Aufnahme noch heute als die Jahrhundertaufnahme gefeiert werden würde. 1942 hatte sie die Tosca zum ersten Mal gesungen und es sollte die Rolle werden, mit der sie am 5. Juli 1965 in London ihren Abschied von der Opernbühne nahm. Doch noch lag mehr als ein Jahrzehnt vor ihr …

Eva Gesine Baur, die sich, wie sie eingangs schreibt, gar nicht so sicher war, ob sie diese Biographie überhaupt schreiben sollte, hat ein Meisterstück vorgelegt. Mit ihrer Fragestellung „Kann es sein, dass Triumph und Tragik der Maria Callas denselben Ursprung haben – den unlösbaren Konflikt in ihr?“ hat sie sich für einen schlüssigen und dennoch leider bis heute wenig beachteten Interpretationsansatz entschieden, dessen atmosphärische Dichte von der ersten Seite an in den Bann zieht.

 

Eva Gesine Baur: Maria Callas – Die Stimme der Leidenschaft. Eine Biographie, C. H. Beck Verlag, München 2023, 507 Seiten, 29,90 Euro.