26. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2023

Karl Hagemeister – Wegbereiter der Malerei der Moderne

von Klaus Hammer

Unweit der Großstadt Berlin, in seiner havelländischen Heimatlandschaft lebte er und suchte, deren spezifische Stimmung zu erfassen. Aus dem jeweiligen Stimmungston eines Wald- oder Wiesenstücks, einer See- oder Sumpflandschaft, der Birken am Wasser, des weißen Mohnes, der Seerosen oder der Apfelblüte entwickelte Karl Hagemeister Licht und Schatten, trug er die Farbe in differenziert ausdrucksfähigen, vibrierenden Flecken und Strichen aus reinen Farben auf. Mit der Grundierung der jeweiligen „Generalstimmung“ ließ er nach und nach das einzelne Detail aus ihr hervorwachsen – das war seine Arbeitsmethode.

Er setzte dunkles Geäst vor hellen Himmel, helle Stämme vor Waldesdunkel, ließ die Ufervegetation vom Wind peitschen oder dünnes Sonnenlicht durch die Bäume schimmern, gestaltete Durchblicke auf Seen und Tümpel, graue Regenstimmungen und die dann auch immer noch helle und tonige Luft in ihren vielfachen Abstufungen. Er schuf Vorfrühlingsbilder, in denen die Vegetation noch ruht, oder schuf Wintermotive mit einer starken Schwarz-Weiß-Wirkung. Hagemeister malte Naturausschnitte, die einer Porträtauffassung nahekamen. Die Impressionisten lösten ihn aus seiner singulären Existenz und machten den „märkischen Corinth“ zu einem Wegbegleiter zeitgenössischer Strömungen.

Ab 1907 kamen dann auch See- und Küstenbilder von der Insel Rügen hinzu. Lichterfüllte Blau-, Grün- und Ockertöne charakterisieren das Wasser in den wechselnden Wetterstimmungen. Fels- und Strandformationen in wechselnden Farb- und Lichtschattierungen, gezeichnet und gemalt, brandendes Meer, sturmgepeitschte, gischtsprühende Wellen, Steine, bizarre Pflanzen, knorrige Stämme – Hagemeister hatte sich einer elementaren, rhythmischen, sprühend farbigen, aber auch licht-zarten Ausdrucksweise zugewandt. Der Pinsel genügte dem Maler nicht mehr, er nahm die Spachtel, den Handballen, ja den ganzen Ärmel, um seinem leidenschaftlichen Impuls Ausdruck zu verleihen. Hier bereits, vor allem dann aber in seinen Seestücken, in denen es um die elementare Gewalt des Meeres, der steigenden und stürzenden Wogen geht, näherte sich Hagemeister dem Expressionismus an, wie überhaupt im ausschließlichen Naturbild etwas von der unruhigen Zeiterfahrung aufbrach, die selbst den abgeschieden lebenden Künstler erreichte.

Vor 100 Jahren – 1923 – widmete sich die Berliner Nationalgalerie vor allem diesen späten Wellen- und Wogenbildern Karl Hagemeisters – und der 75-jährige Künstler sprach damals vom Ende der Malerei, das er mit diesen Bildern erreicht habe. Das nimmt jetzt das Bröhan-Museum zum Anlass, um diese Arbeiten mit denen zeitgenössischer Künstler zu konfrontieren.

Hat Hagemeisters künstlerisches Kräftemessen mit der Natur nicht auch etwas mit der Aktionskunst von heute zu tun? Lassen sich die heranrollenden Wellen und das dramatische Geschehen der Brandung nicht schon als abstrakte Gebilde erkennen? Durch den Einsatz von Petroleum haben sich die auf die Leinwand geworfenen Farbklumpen in schnell fließende Farbverläufe verwandelt. Hagemeisters Grundverständnis einer sich ständig verändernden, in Bewegung befindlichen Natur teilen auch Künstler heute, mögen sie gleichwohl den unterschiedlichsten avantgardistischen Richtungen und Bewegungen angehören.

Die Kuratoren Tobias Hoffmann und Fabian Reifferscheidt haben 16 Künstler der Gegenwart ausgewählt und sie mit Spätwerken Hagemeisters in Beziehung gesetzt. Karl Hagemeister lässt in „Mohnfeld“ (um 1910) die Blüten wie Tupfen aus dem Feld hervorwachsen. Jerry Zeniuk, einer der Wegbereiter der „analytischen Malerei“, erzielt seine Farbharmonien durch Kreise, die durch Farbe und Tonalität eine eigene Tiefenperspektive erhalten („Untitled Number 325“, 2013). Auch Johannes Schramm wählt in seinen Seenlandschaften eine Perspektive in der Natur wie etwa Hagemeister in seinem „Teich in der Mark“ (1902) und misst mit seiner fast fotorealistischen Manier die Grenzen der Malerei aus. Bei Ralph Fleck spielt die Seherfahrung eine Rolle: Aus der Entfernung ist der gemalte Gegenstand recht gut zu erkennen. Tritt man aber nahe an das Bild heran, verschwimmen die Eindrücke zu einem Gemisch von Farbschichten. Wie Hagemeister verwandelt auch Fleck eine räumlich-perspektivische Ansicht in eine abstrakte Farbstruktur.

Markus Linnenbrink lässt in „Mittiglicht“ (2001) die Farbe in dicht gesetzten Bahnen über die Leinwand laufen. War bei Hagemeister die Welle noch Metapher für das Fließen der Farbe, so wird das Fließen der Farbe bei Linnenbrink zum eigentlichen Thema des Bildes. Man erlebt seine zweidimensionalen Oberflächen so, als wären sie dreidimensionale Gebilde und umgekehrt. Auch Susanne Knaack arbeitet in ihren Bildern mit dieser Schütttechnik und lässt schwarze und weiße Acrylfarbe ineinanderfließen. Durch Kippen, Schaukeln, Drehen oder Rütteln der Leinwand erreicht sie stets neue Kombinationen. Der Zufall spielt bei der Entstehung ihrer „Seestücke“ eine wesentliche Rolle. Während Hagemeister bei Darstellung der Wellen bis an die Grenze zur Abstraktion, zur Farbmalerei ging, malt Susanne Knaack abstrakt oder – wie die Kuratoren sage –, sie lässt die Farbe selbst malen Das Bild einer Welle entsteht erst im Auge des Betrachters.

Bei Nina Kluth wiederum bewegt sich der Betrachter durch eine Landschaft zwischen Tiefe und Fläche, Bewegung und Stillstand. Ist nicht auch hier eine Verwandtschaft mit Hagemeisters Wellenbildern spürbar? Mit deren Nahsicht, der sich wiederholenden Bewegung des Wassers, dem Relief der Farbe?

„Pool 21“ (2017) von Martin Borowski ist ein abstraktes Bild, das eigentlich nur aus Pinselstrichen besteht. Aber sein Titel hilft dem Betrachter auf die Sprünge und führt zur Deutung einer glänzenden Wasseroberfläche. Suggestion und Ahnung ist der Schlüssel zu Borowskis Assoziationsraum. Zu den stilistischen Mitteln Hagemeisters gehören ebenfalls dickflüssige Farbspritzer, Tupfen oder schnelle Pinselzüge, wodurch die Bewegtheit seiner Landschaftsschilderungen entsteht.

Die Konzept- und Performancekünstlerin Swaantje Güntzel protestiert mit ihren Bildern und Aktionen gegen die Vermüllung der Meere. Umgeben von Plastik-Abfall betrachtet sie ein Wellenbild, auf dessen Schaumkronen Mikroplastik schwimmt; auch ihrer Ölfarbe hat sie Kunststoffpartikel beigemischt.

Christian Frosch, auch er Konzeptkünstler, taucht in mit Aquarellfarben gefüllte Plasteschalen Aquarellpapier und lässt es die Farbe aufsaugen. War Malerei bisher immer der Auftrag von Farbe auf einen Bildträger, lassen uns die Kuratoren wissen, so wird jetzt der umgekehrte Weg eingeschlagen. Die Farbe hat das Papier durchdrungen und ist mit dem Bildträger eine eigenwillige Symbiose eingegangen.

Diese Hommage an Hagemeister ist zugleich ein Nachweis für die Vielfalt der Malerei. Sie ist keineswegs am Ende, wie Hagemeister seinerzeit glaubte. Im Bröhan-Museum soll die Spannweite heutiger künstlerischer Möglichkeiten gezeigt werden, in die Welt zu wirken, Zukunft vorzubereiten, wie es bereits Hagemeister für die nachfolgende Kunst getan hatte.

 

Das Ende der Malerei. Karl Hagemeister und die Malerei heute, Bröhan-Museum, Schlossstr. 1a,

14059 Berlin, Di – So 10 – 18 Uhr, bis 30. Juli 2023.