Zugegeben: Es sind lediglich 70 mal 70 Zentimeter, und vorerst gehört mir das Grundstück nur zehn Jahre (mit der Option zur Verlängerung). Aber immerhin verfüge ich nun über einen halben Quadratmeter in Berlins Mitte, und gemessen an den hier gängigen Grundstückspreisen handelt es sich geradezu um ein Schnäppchen. Was mich in mehrfacher Hinsicht überraschte, denn ich meinte, dass in dieser Lage und mit dieser Nachbarschaft die Nachfrage erheblich größer sei als das Angebot, was naturgemäß die Preise in die Höhe treibt. Mitnichten, meinte der Immobilienmakler, Berlin habe Mühe, alle brachliegenden Flächen zu belegen.
Bekanntlich begann die Idiotie des Kapitalismus damit, dass Menschen anfingen, sich eine Fläche in der Landschaft abzustecken und zu erklären: Das gehört mir. Damit, so zeigte sich, kam die Spekulation in die Welt, was schon Jean-Jacques Rousseau erkannte. Schon vor Marx wusste man also, dass die sogenannte Eigentumsfrage bei Grund und Boden die verhängnisvollste aller Fragen war und darum auch der dämliche Kern des Kapitalismus. „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: ‚dies ist mein‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben“ – so beschrieb Rousseau seinerzeit den Vorgang der räuberischen Inbesitznahme und leitete daraus den Schluss ab, dass auf diese Weise im Wort- wie übertragenen Sinne die Grundlage für Not, Elend, Krieg und andere Schrecken gelegt worden sei. Womit er zweifellos Recht hatte.
Ich finde vor allem aber seinen Hinweis bemerkenswert, dass es Einfaltspinsel genug gab, die das stillschweigend hinnahmen. Er delegierte also die alleinige Schuld für die nachfolgende Misere nicht an die Adresse der Landnehmer, sondern nahm auch jene in Haftung, die zunächst tatenlos zugeschaut hatten, später aber selbst scharf darauf waren, es den Landräubern gleichzutun. Es liegt ja nicht nur an der erfolgreichen kapitalistischen Propaganda, dass tatsächlich viele Menschen glauben, ihr ganzes Glück bestünde im Erwerb eines Eigenheims mit Garten.
Ich habe mich diesem auch höchst umweltschädlichen Wahn Jahrzehnte aus Prinzip und erfolgreich widersetzt – nicht nur, weil ich mich nicht den Einfältigen zugesellen wollte, ich war nie ein Herdentier. Sondern auch aus ökonomischen wie auch ökologischen Erwägungen. Ich würde nie ein derart unvernünftiges Erbe antreten wollen, vermachte mir jemand sein Anwesen.
Mir sind die Chinesen darum sehr sympathisch: Erstens hätten sie kaum so viel Land, um allen 1,4 Milliarden Staatsbürgern eine Parzelle zu überlassen. Und zweitens: Es verstieße gegen ihre Staatsdoktrin. In China kann man Boden allenfalls für 99 Jahre pachten. Und danach, fragte ich mal einen Bauunternehmer in Peking, der auf gepachtetem Grund Hochhäuser errichtete und die Wohnungen darin verkaufte. Was geschieht dann mit den Eigentumswohnungen auf gemieteter Scholle, fallen die dann auch an den Staat oder was? Darauf kratzte sich der Baulöwe am Kopf und meinte schlitzohrig, dabei die Schlitzaugen ein wenig verengend: Bis dahin werde sich die Partei schon etwas einfallen lassen. Womit er offenbarte, dass die Partei es auch untersagt hatte, die Oberfläche dieser Erde zu privatisieren. Zumindest in der Volksrepublik. Wie der Himmel gehört auch die Erde schließlich allen. Diese Haltung finde ich sehr vernünftig, also sozialistisch. Das beantwortete mir auch die Frage, ob China nun kapitalistisch oder doch anders sei.
Warum also habe ich mit meinen Prinzipien gebrochen und nun noch einen halben Quadratmeter für eine bestimmte Frist erworben? Was lässt sich damit anfangen? Mehr als einen Stein kann man nicht darauf wälzen, und für eine Tiefgarage ist auch kein Platz, zumal die heute gängigen SUVs so viel Blech haben wie einst ein halbes Dutzend Trabant. Vom Platz ganz zu schweigen. O Rousseau: Auch bei der Mobilität gibt es noch immer genug Menschen, die einfältig genug sind zu glauben, dass der Erwerb eines SUV, wenn er denn nur elektrisch betrieben, sich nachhaltig positiv auf das Weltklima und den Weltfrieden auswirke.
Peter Scholl-Latour, wer kann sich an den Kauz mit der knarzigen Stimme noch erinnern, sprach vom Zeitalter der Idiotie, das über uns gekommen sei. Womit er einerseits recht hatte und andererseits irrte: Zeitalter und Zeitenwenden kommen nicht so einfach über uns, sondern sie werden von Idioten gemacht, die die Macht haben und Regierungsämter usurpieren wie seinerzeit die Landnehmer den Boden, als die ihre Grenzpfähle in den selben rammten. Ich gebe zu, dass mich auch ein wenig Ohnmacht und Mitleid trieben, das Fleckchen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu pachten. Erst zögerte ich, weil meine Prominenz mir nicht ausreichend erschien, um meine Asche zwischen all die erlauchten und namhaften Geister betten zu lassen. Zudem hoffe ich – trotz Klimawandel und Krieg – noch auf ein paar Jahre.
Doch dann übermannte mich irdisches Mitgefühl. Die vielen verwaisten Leerstellen rufen nach Belegung! Von den 224 Berliner Friedhöfen sind 38 schon dicht, und obgleich doch täglich gestorben wird, sterben täglich weniger Menschen. Seit 1970 haben sich die Zahlen fast halbiert, und wo früher ein Sarg lag, gehen heute viele Urnen rein. Buchhalterisch heißt das: Für eine Urne braucht man nur rund drei Prozent der Nettograbfläche einer Erdbestattung. Die Friedhofsverwaltungen haben also Probleme, die mehr als tausend Hektar Gottesäcker in Berlin zu füllen. Nicht nur in der Hauptstadt, sondern überall im Land ist das so. Auch an dieser Front gibt es also merklich Verluste, was im Amtsdeutsch heißt, man müsse „zur Minderung des seit längerem anwachsenden Friedhofsflächenüberschusses“ etwas tun (O-Ton Senatsverwaltung für Stadtentwicklung).
Jetzt keimt aber Hoffnung mit Franziska Giffey, die das Amt übernehmen soll. Doch Giffey wäre nicht Giffey, gelänge es mit ihr. Darum habe ich zur Selbsthilfe gegriffen und eine leere Stelle belegt. Mehr aus Mitleid mit dem Evangelischen Friedhofsverband Berlin Stadtmitte, Region Nord, als um meiner selbst willen.
Schlagwörter: Friedhof, Jutta Grieser