26. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2023

Film ab. Dieses Mal – ein Mads Mikkelsen-Special

von Clemens Fischer

Auch bei ausgesprochenen Cineasten wie dem Schreiber dieser Kolumne gibt es immer mal wieder und mit durchaus unterschiedlicher Veranlassung Zeiten von Kino-Abstinenz. In einer solchen fiel mir dieser Tage wieder ein, dass irgendwo noch eine DVD herumliegen musste, die ich angeschafft hatte, weil mich schon vor längerer Zeit der Trailer eines dänischen Streifens neugierig gemacht hatte, den mir im Kino anzusehen dann aber doch die Zeit fehlte – „Helden der Wahrscheinlichkeit“. Sicherheitshalber sollte ich mich vor weiteren Einlassungen allerdings dahingehend outen, dass ich ein gewisses, womöglich ungesundes Faible für gewalttätige Filme habe. Wenn sie denn einen ironischen, skurrilen oder grotesken, zumindest jedoch komischen Einschlag aufweisen. Möglichst eine Mischung aller vier Komponenten.

Dass die dänische Filmwirtschaft für entsprechende Produktionen keinen unfruchtbaren Boden darstellt, wird wissen wer vor über 20 Jahren „In China essen sie Hunde“ (FSK 18) gesehen hat.

Nun also die Helden – Hauptrolle: Mads Mikkelsen, Regie: Anders Thomas Jensen.

*

Abschweifung: Das Zweigespann Mikkelsen / Jensen war mir von einem anderen Film her in sehr guter Erinnerung – „Adams Äpfel“ von 2005. Da war Mikkelsen, der mit seiner Physiognomie und seiner körperlichen Präsenz nicht selten raubeinige, sehr maskuline Typen spielt oder auch schon mal den kannibalischen Psychopathen gibt (2013 bis 2015 in der Serie „Hannibal“), der Pfarrer Ivan Fjeldsted. Ein Mensch mit grenzenlosem Optimismus, extremer Vergebungsbereitschaft und von einer so überwältigenden Güte, dass die Schwelle zur Selbstgefährdung ein ums andere Mal nicht nur tuschiert wurde. Ivan hatte sich die Resozialisierung von Straftätern, ob kleptomanischer Alkoholiker, arabischstämmiger Tankstellenräuber oder aggressiver Neonazi-Anführer, zur Lebensaufgabe gemacht. Doch auch ein im Wortsinne Gutmensch wie Ivan Fjeldsted hat seine dunkle Seite … Die Komik des Films war bisweilen so brachial, dass einem das Lachen im Halse stecken blieb.

*

In den „Helden der Wahrscheinlichkeit“ ist Mikkelsen Markus, Berufssoldat mit Unteroffiziersdienstgrad, im Afghanistan-Einsatz und innerlich zutiefst kriegsversehrt, als seine Frau bei einem U-Bahn-Unglück in Kopenhagen ums Leben kommt. Im Zug saßen, respektive standen auch ein Krimineller, der als Kronzeuge im Prozess gegen Mitglieder einer Rockergang entscheidend zu deren Verurteilung beitragen sollte, und Lennart, ein Wahrscheinlichkeitsexperte mit erkennbarer Persönlichkeitsstörung. Der errechnet anhand einer Reihe von Faktoren, die Normalos wie denen bei der ermittelnden Polizei nur abstrus erscheinen können, dass der Unfall kein Unfall gewesen sein kann und deckt zudem eine Indizienkette zu den wahrscheinlichen Tätern auf. Die Polizei versteht Bahnhof und unternimmt – nichts. Lennarts Freunde Otto und Emmenthaler hingegen, Nerds wie er selbst, verstehen alles. So macht sich das Trio denn auf zu Markus, den es zu überzeugen gelingt, worauf der sich mit den Militärs eigenen handwerklichen Mitteln auf seinen persönlichen Rachefeldzug begibt. Da sterben dann viele, doch nur von den Bösen. Für schwache Nerven ist der Streifen nichts. Aber es wäre kein skandinavischer und kein Jensen-Film, wenn gegen Ende hin nicht noch eine aberwitzige Volte das Ganze …

*

Die Helden regten mich an, bei meinem Streaming Dienst nach weiteren Mikkelsen-Filmen zu suchen, und dabei stieß ich rasch auf noch einen, den ich seinerzeit im Kino verpasst hatte – „Der Rausch“.

Mikkelsen ist Martin, ein ausgebrannter Geschichtslehrer einer Abiturklasse, der er so wenig zu bieten hat, dass sie ihn nicht mal mehr auflaufen lässt, sondern eigentlich nur noch links liegen lässt. Auch in Martins Ehe ist schon vor Jahren letale Lethargie eingezogen ist. Nicht zuletzt sorgen dort die pubertierenden Plagen in Gestalt zweier Söhne eher für Stress denn für Pep.

In der Lehrerschaft an Martins Schule arbeiten – ebenfalls als Lehrer – Tommy, Nikolaj und Peter, zugleich die einzigen Freunde von Martin und ähnlich lebensfrustriert wie er. Einer von denen wartet eines weiteren ereignislosen Tages damit auf, dass er auf eine wissenschaftliche These gestoßen sei, der zufolge der Mensch mit einem genetisch bedingten Defizit von 0,5 Promille Blutalkohol geboren werde, was Mangel an Selbstbewusstsein, Lebensfreude und andere Malaisen mehr mitverursache bis hin zu Schlimmerem wie Depression. Die vier entschließen sich zum Selbstversuch und versetzen sich daraufhin – im Dienst wie im Privatleben – heimlich permanent unter Stoff. Zunächst nur bis zum defizitären Level. Die Wirkung ist breathteaking: Martin avanciert in kürzester Zeit zum Lieblingslehrer seiner Abiturklasse, den Freunden widerfährt Vergleichbares. Das animiert das Quartett fataler Weise, mit höheren Pegeln zu experimentieren. Und spätestens an dieser Stelle weiß jeder Zuschauer, der schon einmal etwas intensiver mit der Droge Alkohol zu tun hatte oder auch nur hinreichend darüber informiert ist, was passieren wird: Das Experiment läuft komplett und ziemlich unappetitlich aus dem Ruder, bis Martin schließlich unter Beweis stellen kann, dass er auch in nahezu volltrunkenem Zustand noch mitreißendes Jazzballett hinlegen kann. Anschließend geht er – wie weiland „Thelma & Louise“ – über die „Klippe, allerdings nicht im Auto und nicht aus großer Höhe, sodass, wer mag, hoffen darf.

*

Kann man die bisher erwähnten Mikkelsen-Filme bei etwas gutem Willen allesamt dem Genre Komödie zuschlagen, so zeigte meine Streaming-Recherche, dass der dänische Ausnahmemime des Jahrgangs 1965 – er gewann bisher zweimal den Bodil, den ältesten dänischen Filmpreis, als Bester Hauptdarsteller und wurde weitere viermal nominiert – auch in anderen Genres souverän zu Hause ist.

*

Da wäre zunächst ein dänischer Kostüm- und Historienfilm – „Die Königin und der Leibarzt“ von 2012.

Mikkelsen ist Johann Friedrich Struensee, ein deutscher Arzt und Aufklärer, der am Hof des geisteskranken dänischen (und norwegischen) Königs Christian VII. (1749 – 1808) erst zu dessen Leibarzt aufstieg, dann ins Bett der aus England stammenden und von ihrem Gatten vernachlässigten und auch nur ebenso begatteten Königin, die er schwängerte, und schließlich zum quasi Regenten des Landes. Dabei formte er Dänemark durch zahlreiche Reformen im Sinne der Aufklärung zum seinerzeit fortschrittlichsten Staat Europas. Was ihm allerdings all jene aus dem adeligen und klerikalen Establishment zum Feinde machte, die zuvor durch Gängelung des debilen Königs in ihrem höchst partikularistischen Eigeninteresse hatten herrschen können. Und da viele Jäger bekanntlich schon immer des Hasen Tod waren, wurde der ins Dänische zugereiste Struensee von der einheimischen Reaktion 1772 gestürzt und dem Schafott überantwortet.

*

Und dann – genremäßig eher unerwartet – ein dänischer Spätwestern: „The Salvation – Spur der Vergeltung“ von 2014.

Mikkelsen ist Jon Jensen, ein ehemaliger dänischer Soldat, der nach der Niederlage seines Landes gegen Preußen im Jahre 1864 mit seinem Bruder Peter in die USA auswandert, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Erst nach sieben Jahres kann er seine Frau und seinen Sohn nachholen. Das geht nach der Ankunft insofern schief, als die Familie bei ihrer Fahrt mit der Postkutsche zum geplanten Zuhause unter die Räuber fällt, von denen Jon aus dem fahrenden Gefährt geworfen wird. Er übersteht das, Sohn und Frau aber leider nicht. Was Mikkelsens Figur zum erbarmungslosen Rächer werden lässt. Zu was auch sonst – in einem Western!

Es wird wieder zahlreich gestorben. Dieses Mal nicht nur auf Seiten der Bösen. Und Mads Mikkelsen kann einmal mehr so weltvergessen und melancholisch in sich gekehrt wie ans Gemüt greifend von der Leinwand schauen, wie es nicht vielen neben ihm gegeben ist.

 

„Adams Äpfel“ (FSK 16), Drehbuch und Regie: Anders Thomas Jensen; DVD 5,99 Euro.

 

„Helden der Wahrscheinlichkeit“ (FSK 16), Drehbuch und Regie: Anders Thomas Jensen; DVD, 7,99 Euro.

 

„Der Rausch“ (FSK 12), Drehbuch (Mit-Autor) und Regie: Thomas Vinterberg; Kauf bei Amazon Prime 7,99 Euro.

 

„Die Königin und der Leibarzt“ (FSK 12), Drehbuch (Mit-Autor) und Regie: Nikolaj Arce; DVD 8,99 Euro.

 

„The Salvation – Spur der Vergeltung“ (FSK 16), Drehbuch (Mit-Autor) und Regie: Kristian Levring (der andere Mit-Autor des Drehbuches: Anders Thomas Jensen!); DVD 8,98 Euro.