Arbeitgeberpräsident Steffen Kampeter forderte jüngst unter anderem längere Arbeitszeiten und mehr „Bock auf Arbeit“, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. „Ich befürchte“, so Kampeter, „die ganze Gesellschaft hat durch staatliche Fürsorge, durch Rettungsprogramme, Doppel-Wumms und alle möglichen Formen der staatlichen Abfederung vergessen oder verlernt, dass das Geld auch erwirtschaftet werden muss.“ Starker Tobak! Das Statement erinnert an Guido Westerwelle, der 2010 im Zusammenhang mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen über „spätrömische Dekadenz“ schwadroniert hatte. Kampeter war damals parlamentarischer Staatssekretär im Kabinett von Angela Merkel. Sie selbst zeigte sich wenig amüsiert von der Äußerung des Vizekanzlers.
Nicht wenige würden Kampeter vielleicht Recht geben und wohl auch Beispiele für Desinteresse und „Null-Bock-Mentalität“ anführen. Sie würden das freilich nie auf sich selbst oder ihre Kinder beziehen und auch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die Beschäftigung in Deutschland war mit 45 Millionen Erwerbstätigen nie höher als heute. Das gilt auch für die Erwerbsquote, dem Anteil der Erwerbspersonen an der Wohnbevölkerung. Absolut und prozentual gesehen haben also immer mehr Leute „Bock auf Arbeit“. Und obwohl die Jahres- und die Lebensarbeitszeit gesunken ist, nehmen laut Krankenkassenbericht die Ausfälle wegen körperlicher und seelischer Erschöpfung zu. Alles ärztliche Fehleinschätzungen?
Das alles erklärt freilich nicht, warum über Fachkräftemängel geklagt wird und in vielen Betrieben händeringend nach Arbeitskräften gesucht wird. In Zeiten verringerter Arbeitslosigkeit und hoher Auslastung des Erwerbspersonenpotenzials ist so etwas aber eigentlich normal. Dass der Arbeitgeberpräsident deshalb jammert, ist ein in solchen Situationen wiederkehrendes Ritual. Die Unternehmen können bei einem Rückgang der industriellen Reservearmee weniger rasch auf Marktnachfrage reagieren und müssen wohl oder übel steigende Lohn- und Gehaltswünsche akzeptieren. Lohnarbeiter streben nach mehr Lohn für geringere Arbeitszeiten und Unternehmer nach mehr Profit bei niedrigeren Kosten und geringerem Kapitaleinsatz. So geht halt Klassenkampf.
Aber was ist eigentlich dran an der These vom Fachkräftemangel? Die Bundesregierung hat auf eine Anfrage der linken Bundestagsfraktion geantwortet, von einem „umfassenden Fachkräftemangel bzw. von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel“ könne in Deutschland nicht die Rede sein. Im vierten Quartal 2022 hätten zur Besetzung der 1,82 Millionen offenen Stellen, die von den Unternehmen angegeben würden, insgesamt über 4 Millionen Arbeitssuchende – Menschen, die arbeitslos seien, in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen steckten oder vorübergehend arbeitsunfähig seien – zur Verfügung gestanden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Regierung sich gegenüber den Linken mit arbeitsmarktpolitischen Erfolgen brüsten und das Problem klein reden wollte. Darauf deutet auch hin, dass Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern und für Heimat, und Arbeitsminister Hubertus Heil vor ein paar Wochen nach Kanada flogen, um sich wegen der anstehenden Novellierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes erklären zu lassen, wie das dort funktioniert. Aber auch das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung meint, derzeit könne nicht von einem gesamtwirtschaftlichen Fachkräftemangel gesprochen werden. Allerdings gebe es berufsspezifische und regionale Engpässe.
In der Fachliteratur wird das Problem als mismatch, Nicht-Übereinstimmung, bezeichnet und betrifft die fehlende Passgenauigkeit der Strukturen von Arbeitskräfteangebot und – nachfrage. Es nützt einem arbeitslos gewordenen Bauarbeiter in Düsseldorf nichts, wenn Elektronikfacharbeiter in Dresden gesucht werden. Die Strukturen von Angebot und Nachfrage stimmen in beruflicher und territorialer Hinsicht nicht überein. Weitere Aspekte kommen hinzu; zum Beispiel kostet eine Umschulung Zeit, und ob die Frau in Dresden Arbeit und die Kinder eine passende neue Schule finden, ist unsicher. Von zu pflegenden Eltern, dem funktionierenden Freundeskreis und dem Sportverein ganz zu schweigen. Und überhaupt: Umzug in den Osten?
Der wirtschaftliche Strukturwandel sorgt dafür, dass es immer wieder zum Mismatch kommt. Die Alterung der Bevölkerung hat zu einer gewaltigen Zunahme der Nachfrage nach Pflege- und Gesundheitspersonal geführt, eine Nachfrage, die es so vor zwanzig, dreißig Jahren nicht gab. Die Abwendung der Konsumenten vom Einkauf im Laden und ihre Hinwendung zum Kauf im „Netz“ war in der Speditions- und Lieferbranche mit einem Beschäftigungsaufschwung verbunden, der an anderer Stelle zu Arbeitskräftemangel führte. Vor Jahren war im Zusammenhang mit dem technologischen Fortschritt und unter dem Stichwort Industrie 4.0 von nicht wenigen Analysten vor einer gewaltig anschwellenden Arbeitslosigkeit gewarnt worden, aber inzwischen hat sich gezeigt, dass es weniger um einen Rückgang der Beschäftigung, sondern mehr um Strukturwandel ging. Die Bundesagentur für Arbeit differenziert nach Fachkräften, Spezialisten, Experten und Helfern und macht eine ganze Reihe von Engpassberufen aus. An der Spitze der ersten Gruppe stehen Pflege- und Gesundheitsberufe, in der zweiten Kindererziehung und Bauberufe und bei den Experten werden beispielsweise Softwareentwicklung, Medizin und Lehrkräfte genannt. Aber auch in solchen Berufen übersteigt die Zahl der Arbeitssuchenden die der offenen Stellen. Bei den Helfern und Helferinnen kommen 11 Arbeitssuchende auf eine gemeldete Stelle, bei den Fachkräften liegt diese Relation bei 2,3 und bei den Spezialisten und Experten bei 2,8. Die Agentur weist allerdings darauf hin, dass die Unternehmen nur einen Bruchteil der wirklich offenen Stellen auch wirklich melden. Haben sie keine Hoffnung, dass das Amt helfen könnte oder ist der Leidensdruck nicht groß genug? Die berechneten Überhänge sind natürlich nur Durchschnitte; in Wirklichkeit stellen sie sich territorial höchst unterschiedlich dar. In Zeiten eines Umbruchs wie heute kommt es also in der Tat zu einem Mangel an Arbeitskräften in bestimmten Sektoren und zu einem Mismatch. Die zeitweilige Zunahme der Meldungen, dass Arbeitskräfte fehlen, kommt also immer wieder vor, sie löst sich wieder ab mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit. Das ifo-Institut München hat letzten Herbst in einer Studie für mehrere europäische Länder gezeigt, wie es in den vergangenen dreißig Jahren zu regelrechten Wellen der Zu- und Abnahme des Arbeitskräftemangels kam. In nächster Zeit wird die Welle aber wohl nicht mehr so abflachen wie in der Vergangenheit, weil die Babyboomer-Generation in Rente geht und älter wird und die nachrückenden Bevölkerungskohorten kleiner werden. Diese Generationenfrage kommt zum Strukturwandel hinzu und der Markt regelt hier gar nichts.
Natürlich sind solche Analysen und Erklärungen für die schon heute teils existenziell betroffenen Bereiche und Unternehmen wenig tröstlich; sie erhöhen die Verantwortung der Regierungen, das ihre zu tun, um Arbeitskräftemangel auf der einen und Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite auch perspektivisch zu bekämpfen. Sie zeigen aber, dass Hysterie und Schuldzuweisungen à la Kampeter unangebracht sind.
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