26. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2023

Der schweigende Papst

von Jürgen Hauschke

Bereits vor 22 Jahren veröffentlichte DER SPIEGEL unter dem Titel „Der Papst, der schwieg“ einen Beitrag über Pius XII. mit folgenden einleitenden Sätzen: „Weiß Gott, dieser Mann war ein Freund der Deutschen. Seine Haushälterin Pascalina – eine Deutsche. Sein Privatsekretär Robert Leiber – ein Deutscher. Zweien seiner Vögel, die er hegte und pflegte, hatte er deutsche Namen gegeben – Gretchen und Peter. Eugenio Pacelli sprach Deutsch, als sei es seine Muttersprache. Über zwölf Jahre lang amtierte er als Botschafter des Vatikans in Deutschland. Und als er 1929 das geliebte Land wieder verließ, da zeigte sich, dass auch die Deutschen seine Freunde waren: Tausende säumten wie bei einem Ufa-Star die Straßen im gar nicht so katholischen Berlin.“

Im Spiegel-Text wird unter anderem der Frage nachgegangen, ob Pacelli, der ab 1939 bis 1958 als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche unter dem Namen Pius XII. fast zwanzig Jahre lang sein Potifikat ausübte, den Holocaust hätte verhindern können. Nun, die Frage scheint überzogen. Aber welche Möglichkeiten hatte der Papst, auf den deutschen Diktator Adolf Hitler und auf den italienischen Diktator Benito Mussolini einzuwirken? Und wenn ja: Hat er sie oder hat er sie nicht genutzt?

David Kertzer, ein bekannter Historiker aus den USA, der bereits 2015 für seine Biographie über Pius XI. mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, legte nun seine Biographie über Pius XII. vor. Die deutsche Übersetzung erschien gerade unter dem vormaligen Spiegel-Titel „Der Papst, der schwieg“. Schon 1999 hatte John Cornwell eine Biographie mit der Überschrift „Der Papst, der geschwiegen hat“ herausgebracht, im Original „Hitler’s Pope“. Warum jetzt also eine erneute Beschäftigung mit ihm?

Pius XII. ist bis heute einer der umstrittensten Päpste der Kirchengeschichte. Die einen verehren ihn wie einen Heiligen. Der deutsche Papst Benedikt XVI. erkannte seinem Vorgänger 2009 den heroischen Tugendgrad zu, so dass lediglich noch der Nachweis einer Wunderheilung für die Seligsprechung des einstigen Papstes benötigt wird. Die anderen bedenken ihn mit Verachtung wegen seiner Schwäche für faschistische Diktaturen und seiner Abneigung gegen Juden. Erinnert sei hier auch an Rolf Hochhuts Stück „Der Stellvertreter“, das ab 1963 die Kritik vorantrieb und Pius XII. den Beinamen „Hitlers Papst“ beibrachte. Das „christliche Trauerspiel“ Hochhuths war übrigens in Italien zeitweilig verboten.

Das Vatikanische Geheimarchiv blieb zu Pius XII. jahrzehntelang versiegelt. Erst Papst Franziskus gab dem öffentlichen Druck nach und ließ die Öffnung zu. Am 2. März 2020 stand Kertzer mit wenigen anderen Wissenschaftlern vor den sich erstmals öffnenden Türen des in Apostolisches Archiv umbenannten vatikanischen Gebäudes. Tausende Seiten von Originalquellen über die Zeit von Pius XII. wurden zugänglich.

Kertzers neue und sehr lesenswerte Biographie ist anschaulich und überzeugend argumentierend geschrieben. Sie ist differenzierter, als es der etwas abstrakte Titel vermuten lässt. Das Buch umfasst über 700 beeindruckende Seiten. Allein der Anmerkungsapparat besteht aus über 100 Seiten, hinzu kommen eine Bibliographie, Register, Kurzbiographien zu den wichtigsten Personen und Fotos.

Das Buch bietet die erste ausführliche Darstellung der Ereignisse im Vatikan während des zweiten Weltkrieges auf der Grundlage der nunmehr zugänglichen Quellen. Bisherige kritische Einschätzungen zum Papst werden untermauert. Sensationelle Funde gibt es nicht, wohl aber viele neue Details und auch wirkliche Neuentdeckungen.

Kertzer berichtet in einem Interview: „Das schockierendste und überraschendste war sicherlich die Entdeckung der Geheimverhandlungen, die Pius XII. mit Hitler über dessen persönlichen Gesandten Prinz Philipp von Hessen führte, kurz nachdem Pius XII. 1939 Papst wurde. Diese Verhandlungen waren so geheim, dass Hitler seinen eigenen Botschafter beim Heiligen Stuhl nicht einweihte.“ Der Vatikan hielt diese Gespräche bis zu Kertzers Entdeckung acht Jahrzehnte lang geheim. Ebenso aufschlussreich war für ihn das Finden von Protokollen der Treffen zwischen dem Papst und Hitlers Gesandtem. Man sprach deutsch miteinander.

Philipp von Hessen war seit seiner Vermählung mit der italienischen Prinzessin Mafalda der Schwiegersohn des italienischen Königs Vittorio Emanuele III. Als Mitglied der NSDAP ab 1930 gehörte er zum engsten Kreis um Hitler und wurde dessen persönlicher Gesandter bei Mussolini. Im Sommer 1939 begannen die Geheimverhandlungen. Am 26. August 1939, wenige Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen, ließ Hitler übermitteln, er strebe die „Wiederherstellung des Friedens mit der Kirche“ an mit den Zielen eines überarbeiteten Konkordats unter Einschluss Österreichs, keiner politischen Einmischung durch die katholische Kirche und keiner Diskussion der „Rassenfrage“. Im Oktober wurde dem Vatikan versichert, dass auch nach dem kürzlichen Nichtangriffsvertrag mit der Sowjetunion kommunistische Propaganda im Reich nicht zugelassen werde.

Nachdem der Papst sich in einem geheimen Memorandum gegen antiklerikale Angriffe in Deutschland aussprach, kam es im März 1940 zu einem offiziellen Besuch des deutschen Außenministers Ribbentrop im Vatikan. Von Hessen in der noch geheimen Vorbereitung: Es „könnte eine neue Ära des Friedens für den Katholizismus in Deutschland anbrechen“. Während dessen schwieg der Papst auch zum Überfall auf Polen und auf den deutschen „Umgang“ mit den katholischen Priestern und Laien. Der Burgfrieden zwischen Kirche und Staat in Deutschland wurde bekräftigt. „Hitler erfülle seinen Teil um eine Verbesserung zu bewerkstelligen, behauptete Ribbentrop. Er habe nicht weniger als 7000 Anklagen gegen katholische Geistliche wegen verschiedener finanzieller und sexueller Vergehen niedergeschlagen […].“

Weitere Geheimtreffen folgten, die Gründe gehen aus den Dokumenten nicht hervor. Nach Beschwerden darüber, dass in einigen Auslandssendungen, das deutsche Militär in ein schlechtes Licht gerückt worden sei, war auch Radio Vatikan mundtot gegenüber den „Achsenmächten“, dem Rassismus und Antiklerikalismus der Nazis und – nicht verwunderlich – auch gegenüber deren Antisemitismus.

Es war noch nicht einmal ein Monat seit der deutschen Kapitulation vergangen, als sich Pius XII. in einer Kardinalsversammlung erstmals öffentlich zum Thema Nationalsozialismus äußerte. Zunächst rechtfertigte er das von ihm ausgearbeitete und unterzeichnete „Reichskonkordat“ von 1933. Diese Übereinkunft von Heiligem Stuhl und Deutschem Reich gilt bekanntlich bis heute weiter. Sie brachte dem Reichskanzler Hitler einen enormen Prestigegewinn und besiegelte das Ende des politischen Katholizismus in Deutschland. Anschließend betonte der Papst das Leiden der Katholiken und der katholischen Kirche während des Krieges und bezeichnete die deutschen Katholiken als Opfer der Nazis. Kertzer resümiert: „Mit keinem einzigen Wort erwähnte Pius XII. die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis. Wenn es in jenen Konzentrationslagern, von denen er sprach, neben tapferen Priestern und katholischen Laien auch Juden gegeben hatte, so erfuhr man es aus seiner Rede jedenfalls nicht.“ Italiens Rolle und Verantwortung als Achsenmacht wurden ebenso ausgespart. In der päpstlichen Weihnachtsansprache im gleichen Jahr verurteilte er zwar erstmals totalitäre Regime. Nur hatte er solange mit dieser Absage gewartet, bis davon einzig die Sowjetunion übriggeblieben war. Erst in der Mitte der 1960er Jahre läutete Papst Paul VI. im Zweiten Vatikanischen Konzil das Ende der jahrhundertelangen Dämonisierung der Juden durch die Kirche ein.

Die Deutsche Bischofskonferenz verkündete zum 75. Jahrestag des Kriegsendes das Eingeständnis, „dass die katholischen Bischöfe im Deutschen Reich sich weder der Kriegstreiberei des NS-Regimes noch der Judenvernichtung widersetzt hatten“. Eine vergleichbare Anerkennung der eigenen Verantwortung fehlt bis heute von der katholischen Kirche Italiens und vom Vatikan.

Pius XII. brach „sein Schweigen selbst dann nicht, als mehr als tausend römische Juden am 16. Oktober 1943 zusammengetrieben wurden und die nächsten zwei Tage hindurch nahe dem Apostolischen Palast auf ihren Abtransport nach Auschwitz und damit in den Tod warteten. […] Die einzige Gelegenheit, bei der Pius öffentlich gegen etwas protestierte, das in Rom geschah, waren die alliierten Bombenangriffe auf die Stadt.“

Die institutionellen Interessen der römisch-katholischen Kirche zu Kriegszeiten, so Kertzer in seinen Schlussgedanken, wurden vom Papst erfolgreich verteidigt. Die Kirche ging mit ihren Privilegien unversehrt aus dem Krieg hervor. „Nimmt man den Papst jedoch als moralische Führungsinstanz in den Blick, so hat Pius XII. versagt.“

2020 forderten die Berliner Historiker Ralf Balke und Julien Reitzenstein die Pacelliallee in Berlin-Dahlem nach der bislang einzigen israelischen Ministerpräsidentin in Golda-Meir-Allee umzubenennen. Die Initiative war bisher mit diesem Ziel nicht erfolgreich.

 

David I. Kertzer: Der Papst, der schwieg. Die geheime Geschichte von Pius XII., Mussolini und Hitler, aus dem Englischen von Tobias Gabel und Martin Richter, wbg Theiss, Darmstadt 2023, 704 Seiten, 39,00 Euro.