26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Berliner Museumsgänge

 von Wolfgang Brauer

Albrecht Dürer bezeichnete ihn und Rogier van der Weyden als „beede grosz maister“. Dennoch geriet der um 1440 in Gent geborene Hugo van der Goes nach seinem Tod 1482 (oder 1483) relativ rasch in Vergessenheit. Eines seiner wichtigsten Werke, der „Montforte-Altar“ (um 1470/75), wurde noch bis 1890 Rubens zugeschrieben. Aber bereits 1910 mussten die Berliner Museen für das Bild rund 1,3 Millionen Pesetas zahlen – und es dauerte drei Jahre, ehe die spanische Regierung einer Ausfuhr zustimmte. Das war bis zum heutigen Tag der teuerste Ankauf für die Berliner Gemäldegalerie.

Van der Goes gehört zu den Künstlern, zu dessen Œuvre die noch vorhandenen Werke erst nach 1872 Schritt für Schritt auf der Grundlage eines einzigen, als „van der Goes“ belegbaren Altares allein mit stilkritischen Mitteln zugeordnet werden konnten. Bis heute sind das nur 14 Gemälde, dazu kommen noch eindeutig zwei belegbare Zeichnungen. Von Jan Vermeer sind immerhin 37 Arbeiten anerkannt, von van der Weyden 40. Unklar und durchaus widersprüchlich sind bei van der Goes vielfach noch die Datierungen.
Eine Einzelausstellung war seit langem überfällig. Als Hauptproblem erwies sich, dass Meister Hugos großformatige Arbeiten nicht transportfähig sind. Dazu gehören der schon erwähnte Altar, der „Portinari-Altar“ aus den Uffizien in Florenz und die „Bonkil-Tafeln“ aus der Schottischen Nationalgalerie in Edinburgh. Die Berliner Gemäldegalerie hingegen besitzt neben dem erwähnten „Montforte-Altar“ noch eine „Geburt Christi“ (1480). Das gab den Ausschlag für Berlin. Und die mit dem melodramatischen Untertitel „Zwischen Schmerz & Seligkeit“ versehene Schau darf getrost als eine Sensation der aktuellen europäischen Expositionen bezeichnet werden.

Es ist die erste Hugo-van-der-Goes-Ausstellung seit dem Tod des Künstlers überhaupt. Und sie führt zwölf der 14 heute mit einer gewissen Sicherheit van der Goes zuschreibbaren Gemälde und die beiden Handzeichnungen zusammen. Dazu kommen über 40 hochkarätige Arbeiten aus dem Umfeld und der Nachfolge des Künstlers. Das alles ist dank einer faszinierenden Hängung nachhaltig auch für Nicht-Eingeweihte erlebbar. Freunde altniederländischer Malerei werden so manche Entdeckung machen können. Man lasse sich beispielsweise nur gründlich auf die kleinen Tafeln des „Wiener Dyptichons“ (um 1477/79) ein und bringe dessen „Sündenfall“ – bei van der Goes pflückt Eva einen zweiten Apfel und die Schlange hat vier Füße – in einen Dialog zum „Tryptichon mit der Marter des hl. Hippolytus“ (um 1475/79) von Dieric Bouts. Dessen linke Seitentafel mit den Porträts des Stifterpaares stammt mit großer Sicherheit von Meister Hugo. Für dieses Bild musste eine Klimatruhe gebaut werden, an seinem Originalstandort – der Salvator-Kirche in Brügge – herrscht einen andere Luftfeuchtigkeit. Anrührend die kleine Mitteltafel des Marientryptichons aus dem Frankfurter Städel – nur die stammt von van der Goes. Insgesamt sieben Mal findet sich auf dem Rahmen die Aufschrift „EN ESPERANCE“ („In Hoffnung“). Ausdruck offenbar des innigen Kinderwunsches des auftraggebenden Paares. Zu den großen Tafelbildern ist hier nicht viel zu sagen –  sie überwältigen…

Hugo van der Goes starb wahrscheinlich an den Auswirkungen einer fürchterlichen Nervenkrankheit. Für den Geniekult des 19. Jahrhunderts ein gefundenes Fressen. Für unsere mediengeprägte Zeit den ersten Besprechungen der Schau zu Folge offenbar auch. Davon sollte man sich nicht abschrecken lassen.

 

Hugo van der Goes. Zwischen Schmerz & Seligkeit, Gemäldegalerie Berlin, Kulturforum Matthäikirchplatz, täglich außer montags bis zum 16. Juli 2023; Katalog im Hirmer Verlag (im Museumsshop 39,00 Euro).

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Während Klaus Biesenbach, Chef der Neuen Nationalgalerie in Berlin, sich vor dem versammelten Hauptstadt-Feuilleton von einem wortgewaltigen Bild in feinstem N.Y.C.-English in das nächste schraubt, versinkt der neben ihm stehende ältere Herr aus Taiwan immer mehr in einem Abgrund optischer Zweitrangigkeit. Dabei ist er die Hauptperson in dieser Performance, er ist der Künstler, um den es hier geht. Tehching Hsieh wurde 1950 in Nanzhou auf Taiwan geboren, lebt aber seit 1974 in den USA und hat seit 1988 die us-amerikanische Staatsbürgerschaft inne. Unter dem Einfluss Dostojewskis, Kafkas und seiner Mutter – wie er selbst erklärt – brach er die Schule ab, um Künstler zu werden. Manche Menschen finden zur Kunst, weil sie einen Drang in sich spüren, der Welt irgend etwas mitzuteilen. Hsiehs Motivation war eher kontemplativer Natur, er strebte von Anfang an danach, „in der Kunst über das Leben, die Zeit und das Sein nachzudenken“. Also wurde er Performancekünstler, sprang 1973 aus dem zweiten Stock eines Hauses in Taipeh und brach sich beide Knöchel. Kunst verlangt Opfer. Das war seine erste Performance „Jump“.

Sein Hauptwerk besteht aus insgesamt sechs Performances. Solch körperschädigenden Schöpfungsakt wiederholte er aber nicht noch einmal, sondern verlegte sich fortan auf „One Year Performances“. Deren zweite davon datiert von 1980/1981 und bestand darin, dass er zu jeder vollen Stunde ein Jahr lang eine Zeitkarte stempelte und dazu parallel ein Selbstporträt aufnahm.  Insgesamt 8760 Stück. Rechnerisch begabte Leser werden jetzt feststellen, dass da genau 133 Stempelkarten fehlen. Das ist richtig. Gelegentlich erlitt der Künstler mentale Zusammenbrüche. Nachahmung ist also auch hier nicht zu empfehlen. Im Endergebnis stellte Tehching Hsieh die Selbstporträts zu einem sechsminütigen Film zusammen. Den kann man in der Ausstellung der „One Year Performance 1980-1981 (Time Clock Piece)“ in der Neuen Nationalgalerie anschauen und gerät dabei mit Sicherheit selbst in tiefsinniges Nachdenken über das Leben, die Zeit und das Sein. Die sechste – und letzte – Performance schuf der Künstler von 1986 bis 1999. Sie bestand darin, dass er in diesen Jahren nichts, absolut gar nichts von seiner Kunst ausstellte. Seitdem stellt er aber wieder aus, und wird von Instituten wie dem MOMA in New York bis zum MOCA in Los Angeles bejubelt. Ich halte die sechste Performance für die bedeutendste.

 

Tehching Hsieh, Neue Nationalgalerie. Staatliche Museen zu Berlin, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin, täglich außer montags, bis 30. Juli 2023.

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Im selben Haus, vis-à-vis zum Eingang der Dauerausstellung zieht durch die gläserne Front des Grafischen Kabinetts des Museums Gerhard Richters zwei mal zehn Meter große Darstellung einer Art überdimensionierten farbigen Strichcodes („Strip“, 2013/2016) geradezu soghaft an. Das ist geschickt inszeniert und bildet das Entree zur Präsentation der 2021 vereinbarten Dauerleihgabe von 100 Arbeiten Richters für das „Museum der Moderne“ der Berliner Staatlichen Museen. Das umstrittene Haus ist noch eine Baugrube, wahrscheinlich eine der teuersten der Republik. Wer sich beeilt, kann das gigantische Loch bis zun 30. April 2023 von der oberen Plattform der Installation Monica Bonvicinis „I do You“ bestaunen.

Aber zu Gerhard Richter. Für dessen Arbeiten ist im „Museum der Moderne“ ein eigener Saal vorgesehen, wohl eine Vorbedingung der Dauerleihgabe. Im Zentrum der aktuellen Schau steht Richters „Birkenau-Zyklus“, der bereits 2021 in der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel zu sehen war.

Man kann über Richters Kunst sehr geteilter Meinung sein, aber seine Auseinandersetzung mit der Shoah ist atemberaubend. Es ist gut, dass auch hier der Faden zu „Onkel Rudi“ (1965/2000), „Tante Marianne“ (1965/2019) und „Herr Heyde“ (1965/2001) – alle drei Bilder in der Ausstellung als Fotoedition – deutlich gemacht wird. Unwillkürlich stellt sich eine Kontextualisierung des Völkermordes mit der eigenen Familiengeschichte her: Gerhard Richters Onkel Rudolf Schönfelder, als junger Mann wahrscheinlich strammer Nazi, posiert stolz in seiner Uniform – und fällt kurze Zeit später an der Front. „Tante Marianne“ entsteht nach einer Fotografie der 14-jährigen Marianne Schönfelder aus dem Jahr 1932. Marianne wird 13 Jahre später in einer Nervenheilanstalt ermordet. Werner Heyde war einer der Haupttäter des „Euthanasie“-Programms der Nazis.

Ich halte die in diesen Zusammenhängen entstandenen Bilder für die wichtigsten Arbeiten des Künstlers. Ich wünschte allerdings, der Zyklus wäre in der Alten Nationalgalerie geblieben und hätte den sterilen Weihetempel des 19. Jahrhunderts ein wenig aufgebrochen. So wird er von manchen wahrscheinlich nur als eine Art post-realistischer Zwischenschritt zu den durchaus berauschenden „4900 Farben“ (2007) oder den „Abstrakten Bildern“ von 2016 betrachtet werden. Damit bleibt Richter in der Riege der stark bejubelten Großkünstler der Moderne. Die Kunstkritik schaut eher auf die Verkaufserlöse denn auf die Substanz des Werkes. Das übliche Schicksal zu Lebzeiten Bejubelter – nach dem Tod sind sie auf Jahre hinaus vergessen. Dann kommt eine Wiedergeburt. Oder auch nicht. Aber den „Birkenau“-Zyklus, den sollte man gesehen haben. Dass er an die Nationalgalerie ging, das ist der tatsächliche Glücksfall für Berlin.

 

Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin, Neue Nationalgalerie. Staatliche Museen zu Berlin, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin, täglich außer montags.