Da seit Jahren die Zahl der Zeitungsleser schwindet, schrumpft auch die Auflage der Printmedien. Nicht aber die Zahl der Leserbriefschreiber, wie mir scheint.
Für das Sinken der Auflagen gibt es verschiedene Gründe, objektive wie subjektive. Hinzu kommen augenscheinlich auch strategische Fehlentscheidungen wie etwa die des Berliner Tagesspiegels, der im November des vergangenen Jahres sein Format halbierte, es auf die Größe eines Boulevardblattes brachte und dies mit Hinweisen auf internationale Presseerzeugnisse begründete. Man böte 40 Seiten Welt und 40 Seiten Weltstadt, schwärmte der Chefredakteur in der Werbung. Es wurden schon bald je 32 Seiten, die in zwei „Buchblöcken“ zusammengefügt wurden. Und da das Papier eine weitaus niedrigere Grammatur aufweist als Zeitungspapier gemeinhin hat (was vielleicht der eigentliche Grund dieser fundamentalen Umstellung war), wird mit Rückstichklammern das Ganze zusammengehalten. (Schreddern ist darum nicht ratsam.) Allerdings braucht man zum Lesen auch eine kräftige Lunge: Um die Seiten zu trennen, muss man kräftig pusten – sie kleben aneinander. Physikalisch nennt man das Adhäsion, als Leser einfach nur Mist.
Aber nicht nur das ließ mich ein jahrzehntelanges Abonnement aufkündigen. Zum anderen mochte ich dem Blatt auf dem weiteren Weg zum Boulevard nicht folgen. Dorthin bewegte es sich bereits geraume Zeit, durch das neue Format und das dadurch erforderliche neue Layout erfuhr der Prozess eine merkliche Beschleunigung. Ein großer Beitrag mit knalliger Parole auf einer Seite, dazu Agenturmeldungen am Rand, mehr geht nicht. So spart man sich Eigenes und damit Personal und Kosten.
Vor allem aber: Das Blatt orientiert sich nach meiner Beobachtung wieder stärker auf sein ursprüngliches Westberliner Klientel. (Was nicht nur an den Absendern auf der einzigen, in der Sonntagsausgabe erscheinenden Leserbriefseite unschwer ablesbar ist.) Back to the roots heißt auch: Rückbesinnung auf die Ausrichtung des Blattes, als der Westteil Berlins Frontstadt war und der transatlantische Leuchtturm der Freiheit. In den neunziger Jahren gab es mal eine liberale Phase, da gewann man mich als Abonnentin. Dieser ideologische Ausbruch ist lange her und nun wohl für immer vorbei. Man hockt wieder im Schützengraben des Kalten Krieges und bläst in die alten Fanfaren.
Ich kündigte, als ich nun den Anlass hatte – und erhielt mehrere Anrufe und Angebote aus dem Verlag, um meine Entscheidung zu überdenken Man kennt das ja von abrupten Scheidungen. Ein Angebot nahm ich an, jeder und jede ist schließlich korrumpierbar. Ich würde noch zwei Monate gratis das Blatt zugestellt bekommen. Nach anderthalb Monaten erkundigte sich eine freundliche Frauenstimme am Telefon, ob ich meine Entscheidung revidieren würde, nachdem ich nun Gelegenheit gehabt hätte, den „neuen“ Tagesspiegel zu studieren. Nein, sagte ich, ich bliebe dabei, nicht mehr dabei bleiben zu wollen. Mehr denn je frustierte mich die sehr parteiische Lektüre.
Die zwei Monate waren vorüber. Ich fand weiterhin morgens die Postille mit den aneinanderklebenden Seiten in meinem Briefkasten. Trotz ultimativer Absage. Vermutlich war die Verkaufsauflage derart im Keller, dass man sie auf diese Weise zu halten hoffte. Anfang März, die Verzweiflung in der Verlagsleitung musste dramatisch gewachsen sein, flatterte mir ein neues Angebot ins Haus: Wenn ich mich bis zum 20. März entschlösse, zwölf Monate den Tagesspiegel zu lesen, schenkte man mir 250 Euro. Zögerte ich mit meiner Entscheidung bis zum 31. März, bekäme ich immerhin noch 200.
31. März? Natürlich, zum Ende des Quartals prüft die „Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern“, bekannt als IVW, die Auflagen von Presseerzeugnissen, genannt auch Reichweite. Und daran bemessen sich die Preise der Anzeigen. Zeitungen wie nd.der tag, formerly known as Neues Deutschland, oder junge Welt interessiert das nicht die Spur, dort verstehen sich die verlangten Anzeigenpreise eher als Solidaritätsspenden. Ein Auflagen-Absturz bei einem IVW-Mitglied hingegen geht an die Substanz weil an die Werbeeinnahmen im nächsten Quartal. Weniger Leser, weniger Auflage, weniger Erlöse. Einfache Logik. Deshalb also kämpfte der Tagesspiegel mit allen Mitteln um jeden einzelnen Leser.
Diese Mittel machten die Zeitung aber nicht besser. Sollte man das in einem Leserbrief mitteilen? Würde der veröffentlicht werden?
Gewiss nicht. Angesichts der publizierten Elogen aus Zehlendorf, Tegel, Spandau, Charlottenburg und so weiter ob des gelungenen optischen Relaunch hätte Fundamentalkritisches aus dem Ostteil der Hauptstadt wohl keine Chance. Obgleich man doch auch bei der Auswahl von Leserbriefen immer auf vermeintliche Ausgewogenheit achtet. Bei existentiellen Fragen aber ist das Prinzip verabschiedet – man lässt sich nicht im eigenen Blatt die Hose ausziehen!
Apropos Meinungsbekundungen von draußen, Leserbriefe genannt. Ich studiere (respektive studierte) nicht nur die genannte Postille, sondern berufsbedingt täglich noch weitere Tageszeitungen, die entweder in jeder Ausgabe oder in einem festen Rhythmus auswärtiges Echo publizieren. Leserbriefe gehören, wie Untersuchungen bestätigen, zu den beliebtesten Rubriken. Die meisten Zeitungsleser hängen der Illusion an, das sei eine Art Gegenöffentlichkeit, hier spiegele sich die Stimmung im Volke wider, die sie auf den anderen Seiten der Zeitung vermissten. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht: Erstens findet eine Selektion der Post statt. Die Redaktion präferiert Zuschriften, die eine gewünschte Meinungstendenz stützen (oder ihr widersprechen). Und wenn es diese Briefe nicht gibt, werden sie, zweitens, in der Redaktion erfunden. Man studiere zum Beweis nur die Ein-Satz-Korrespondenzen auf der ersten Seite der BILD.
Dann finden sich unter den Briefeschreibern Ex-Politiker, Ex-Wissenschaftler, Ex-Experten, die ihren beim Wechsel ins Rentnerdasein erlittenen Bedeutungsverlust auf diese Weise zu kompensieren versuchen. Es ist die letzte Waffe der Abgetretenen, mit der sie Aufmerksamkeit erzwingen möchten. Und der angeschriebene Herausgeber schmückt sich mit der Länge der Titel und dem Gewicht der Funktion des Absenders.
Die dritte Gruppe der Leserbriefschreiber ist die größte und unangenehmste, auf die augenscheinlich keine Zeitung verzichten kann. Andernfalls würden sie die Vielschreiber nicht so oft drucken. Deren Mitteilung beginnt in der Regel mit dem Dank oder den Glückwunsch an das Blatt beziehungsweise einen Autor oder eine Autorin für einen konkreten Beitrag, den man als besonders gelungen bezeichnet. So sichert man sich deren Gunst. Und dann folgt der Senf, den man – Frauen findet man selten in dieser Sparte – meint hinzufügen zu müssen. Diese Leute haben zu jedem Thema eine Meinung, aber von keinem die Spur einer Ahnung. Sie wissen in der Sache nichts Substantielles mitzuteilen, es sind salbadernde Wichtigtuer. Vox populi? Von wegen. Sie sorgen auf ihre Weise dafür, dass die veröffentlichte Meinung – die bekanntlich nicht unbedingt die Widerspiegelung der Wirklichkeit ist – scheinbar Bestätigung findet.
Vor Jahrzehnten wurden Leserbriefe noch honoriert. Das wähnte ich damals als primäres Schreibmotiv. Nun schreiben diese einschlägig bekannten Leute pro bono. Es treibt sie vermutlich einzig die Eitelkeit, ihren Namen in der Zeitung gedruckt zu sehen. Und ich wette, dass sie ihre Ergüsse ausschneiden, säuberlich aufkleben und in Ordnern sammeln. Für die Nachwelt. Als litte nicht schon die Gegenwart unter dieser Art von geistiger Umweltverschmutzung. Wer schreibt, der bleibt. Das gilt leider auch für Leserbriefschreiber.
Soll man diese Rubrik darum abschaffen? Mitnichten. Es dringen ab und an ja doch einige Zeitgenossen durch, die nicht mit den Wölfen heulen. Aber sie sterben auch aus.
Jutta Grieser erlernte das journalistische Handwerk an der Leipziger Karl-Marx-Universität und übte hernach unterschiedliche Tätigkeiten aus. Nach dem Eintritt ins Rentenalter ist sie nun wieder publizistisch tätig und pflegt das Feuilleton. Die Autorin lebt in Berlin.
Schlagwörter: Jutta Grieser, Leserbriefe, Tagesspiegel, Zeitungen