26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Hippiefest geträumt

von Thomas Behlert

Es wird bald Sommer und dann stehe ich endlich wieder auf einem abgeernteten Getreidefeld, das nur noch Stoppeln aufweist und ansonsten bald von Latschen, Turnschuhen, nackten Füßen und Gummistiefeln zertreten sein wird. Hier findet jedes Jahr, seit über 40 Jahren eine Art von Glückseligkeit statt, meist bei Hitze oder Regen, der mit Schlammschlachten einhergeht. Jetzt liege ich noch frierend auf einer harten Bank im Garten und schlafe langsam ein. Gedanken und Träume umkreisen meinen Kopf, ich sinke ins Traumfeld und denke an vergangene Festival-Zeiten. Da sehe ich sie wieder: die Hippies, Altpunks, verirrten Metaller und letzten Geister der Revolution, die alle ohne Verzweiflung rauchen, jedes Bier mit Genuss trinken und die unbekannten Klänge der vielen Musiker und Bands durch Hirn und Herz laufen lassen. Burg Herzberg im hessischen Land ruft zu „Love und Peace“, oder wie auch immer das Motto heißen wird. Tochter und Neffe sind uns dann wieder als Aufpasser, Meldeposten und „Ins Gewissen Redende“ mitgegeben. Sie entwickeln allerdings in den vier Tagen Völlerei ein Eigenleben. So entstanden Geschichten, die es lohnt zu erzählen.

Ein erster Abend steigerte sich langsam aber stetig zu einem Fest des Wiedersehens, der Bierrunden und Freudentränen. Frank Schäfer hatte im Kulturzelt gelesen, Kurzweil verbreitet und nach der Show zu einigen Bieren eingeladen. Recht so, Kamerad. Irgendwann brach er leider in Richtung saubere Unterkunft auf, denn in den nächsten Tagen sollten noch einige wichtige Termine anstehen, wie mir der feine Herr unter dem Siegel der Verschwiegenheit im Abgehen noch laut lallend zurief. Nun denn, die kleine Familie wankte frohen Mutes zur nächsten Bühne, denn Musik, die einen Bogen um kommerzielle Radiosender machte, wollte man weiter in sich aufnehmen, dabei manch Bier schlürfen und gar die Luftgitarre in Stellung bringen. Schließlich war auch der letzte schräge Ton verklungen, es gab kein Quietschen, keine wummernden Bässe, keinen kosmischen Klang mehr zu bewundern und auch die Jugend, die uns mittelalte Männer zum Zelt schaffen sollte, war längst in den Tiefen der wirr stehenden Zeltstadt verschwunden. So eine Hippiegemeinde hatte nicht einfach schnell im Billigmarkt gekaufte Zelte aufgestellt, nein, da wehten verwirrend bunte Fahnen im Wind, große altertümliche Busse versperrten den Weg und viele Zelte erinnerten an die Zeit der Indianer, Wikinger und Raubritter. Aus vielen Wagenburgen knarzte noch so manch Friedenslied, dessen Akkorde der Gitarrero ein Jahr zuvor wohl bei Peter Burschs Gitarrenkurs erlernt hatte, der jedes Jahr Sonnabend am Morgen stattfindet. „Blowin´in the Wind“ und „Smoke On The Water“ ließen meinen Schwager und mich immer verdrehter werden, denn diese Lieder standen schon längst auf unserer „No Go“-Liste.

Als man bei Tageslicht das Zelt gen Bühnen verließ, prägten wir uns ganz fest die letzte Reihe Dixie-Klos ein. Doch jetzt in der Nacht ohne Mond waren es unendlich viele Toilettenhäuschen geworden, unser aller Zelt somit nicht mehr auffindbar und die Wegenummer vergessen. Lautes Rufen wurde von der Hippiegemeinde nun als störend empfunden, oder es folgten Einladungen zum Biertrinken, und der Neffe dachte im sicheren Zelt nur, wie er uns am Morgen danach scheinheilig berichtete: Jetzt kommen sie endlich, die Suffbären. Wir liefen hin und her, die Wege hoch und runter, versuchten uns an Autos zu orientieren, stolperten über Zeltstricke, rissen schließlich einen Vorbau nieder und fielen endlich zwischen zwei Zelte in eine Art Komaschlaf. Plötzlich sprang mein Schwager auf, rannte wohl zielgerichtet davon und fand unser kleines Heim. Mit allen endlich verfügbaren Familienkräften holte man mich zum Ausgangspunkt, wo ich nach dem Genuss eines letzten vorzüglichen Gerstensaftes den nächsten Vormittag verschlafen sollte.

Zum Mittag gab es Frühstück und wir suchten uns im Programmheft die Bands der nächsten Stunden aus. Doch eigentlich war egal, wer da mit Tönen um sich warf, Hauptsache die Gitarren klopften die Gehörgänge frei, kosmische Klänge ließen das Kraut in der Musik wieder sprießen und die Sänger sangen nicht einfach, sondern heulten, grunzten, krächzten und ließen die Welt an ihrem Schmerz teilhaben.

Es hing ein süßlicher Duft wie die Glocke des Lebens über uns, überall flirrte und wisperte es, die Sonne weichte die Hirne auf, und Töchterchen fing an, wie ein altes Pferd zu niesen. Es war halt überall Natur, kein lebenserhaltender Beton und die Allergietabletten noch im Zelt. Auf meinem Rundgang durch die Schallplattenverkaufsstände hatte ich zuvor einen der kapitalistisch verseuchten Verkäufer („Der Preis bleibt, die LP ist äußerst selten!“) über seine Allergie sprechen gehört. Wir beide besuchten nun diesen Menschen und heuchelten erst einmal Interesse an den überteuerten LP-Boxen. Als wir uns nun alleine gegenüberstanden, fragte ich den Menschen hinter den vollgestopften Regalen nach einer Allergietablette. Nach einigen Minuten des Schweigens sah er uns ganz fest in die Augen und sprach diese unvergesslichen Worte: „Äh ja, ich behandele meine Allergie mit Eigenurin, das hilft und schmeckt nicht einmal schlecht.“ Meine Tochter, die im wirklichen Leben in feinem Zwirn ihre Frau stehen muss, rannte da bereits in Richtung Bierwagen. Nach nur wenigen Worten folgte ich ihr, denn es warteten bereits mit großen Getränken in den Händen der Schäfer – wo der wohl herkam? –, Schwager und Neffe. Eigentümlich die Farbe des Bieres betrachtend, stürzte meine Erbin es in sich hinein und widmete sich dann ganz den harten Rhythmen, die gerade von der Bühne wummerten und Freude verbreiteten. Niesen hörten wir an diesem Tag allerdings nicht mehr.

Da kam ich wieder zu mir und wusste: Lasset uns im Juli nach Burg Herzberg pilgern, denn die Seele braucht Ruhe und der Kopf Leere.

Herzberg Festival, 27. bis 30. Juli 2023, Burg Herzberg.