26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Film ab

von Clemens Fischer

Wer hoch aufsteigt, kann tief fallen. Und letzteres unter Umständen mit atemberaubender Rasanz. Speziell in Zeiten ubiquitärer sogenannter sozialer Medien, von MeToo und vor allem der zunehmenden Herrschaft des Kriteriums der individuellen Betroffenheit als dem allein seligmachenden Maßstab für die moralische Bewertung von Fakten und Vorgängen sowie in einem um sich greifenden gesellschaftlichen Klima, in dem die Bezichtigung nicht selten bereits der Urteilsspruch ist. Dies alles umso eher, wenn das Objekt am Pranger in seinem Metier nicht nur Maßstäbe an Können und Leistung setzt, sondern durch eigenes Fehlverhalten, rigorose Machtausübung und emotionale Kälte den ebenso lauernden wie erbarmungslosen Treibjägern und ihrer gefolgswilligen Entourage in unterschiedlichen Bereichen des geistigen und kulturellen Lebens, in Medien, Gremien et cetera die Vorlagen zum Karriere und Existenz vernichtenden Halali gewissermaßen auf dem Tablett serviert.

Diese Erfahrung hat sich die Stardirigentin am Pult des weltbesten, unschwer als Berliner Philharmoniker erkennbaren Orchesters Lydia Tár daher zum erheblichen Teil selbst zuzuschreiben. Und Täter, die erst einmal ins Fadenkreuz geraten sind, müssen heute mit dem unverzüglichen Verlust jeglicher Anerkennung, von Sympathien sowieso, und mit irreversibler sozialer Ächtung rechnen. Pardon wird nicht gegeben.

Ist eine solche Hexenjagdatmosphäre gesellschaftlichen Klärungs- und Selbstreinigungsprozessen und damit einem stabilen Gemeinwesen eher förderlich oder leistet sie nicht vielmehr totalitären Tendenzen Vorschub? Diese Frage wird viel zu wenig gestellt, geschweige denn diskutiert, denn sie ist für den Fragesteller ja längst mit dem Risiko verbunden, selbst in den Fokus von Shitstormern und anderen selbstermächtigten Regulatoren zu geraten … So breiten sich Erscheinungsformen egozentrierten mentalen Terrorismus‘ aus, der die Musik etwa eines Johann Sebastian Bach zum No-Go stempelt – weil sie von einem alten weißen Mann stamme, der über 20 Kinder gezeugt habe – und der ganz selbstverständlich davon ausgehen kann, via soziale Medien flächendeckend nicht nur verbreitet, sondern vor allem ernstgenommen zu werden.

Todd Field hat die Rolle dieser manipulativen, mit mehr als nur einem Anflug von Genie ausgestatteten Lydia Tár nur für Cate Blanchett geschrieben und hätte das Drehbuch verworfen, hätte sie abgelehnt. Sie tat dies nicht. Ob man später sagen wird, es war die Rolle ihres Lebens, bleibt abzuwarten. Doch ein dritter Oscar schon jetzt wäre mehr als gerechtfertigt. Nominiert ist sie.

Und der Film selbst? Anna Wollmer, NDR: „‚Tár‘ ist ein Film, der von der ersten bis zur letzten Minute durchkomponiert und durchchoreografiert ist, mit kühlen Bildern und einem elliptischen Erzählrhythmus. Ein Film, der verstört und gerade deswegen ein Meisterwerk ist. Ein Film, so bildgewaltig und übergroß, wie es ihn nur alle paar Jahre geben kann.“ D’accord.

Was der Film darüber hinaus über die sehr überschaubare Top-Liga des internationalen Musikbetriebs in der Sparte Klassik, gegen den ein Becken mit hungrigen Piranhas wie ein Sanatorium wirkt, verrät, muss eigentlich niemand, dem es vor allem um Musikgenuss geht und der kein Voyeur ist, wissen. Doch hat dieses Plaudern aus dem Nähkästchen seinen Anteil daran, dass der Spannungsbogen des Films bis zum Schluss trägt und man sich unwillkürlich fragt: „175 Minuten – wo sind die geblieben?“

„Tár“, Drehbuch und Regie: Todd Field. Derzeit in den Kinos.

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Es mag ja so sein, dass man besonders gut für ein dauerhaft inklusives Leben konditioniert ist, wenn die eigene Kindheit und Jugend im Wesentlichen auf dem Areal einer psychiatrischen Klinik stattfand – weil dem Vater als Direktor derselben dort eine Dienstwohnung attachiert war – und daher im permanenten Zusammensein mit den Patienten des Hauses. Mit den passenden Eltern sowie Geschwistern und in der piefigen Idylle von Schleswig-Holstein in den 1970er Jahren schon gar kann solch ein Heranwachsen gleichwohl trotzdem in die Nähe eines Alptraums geraten, obschon der Betroffene diesen – allein mangels Vertrautheit mit möglichen Alternativen – wohl nicht als solchen bezeichnen würde.

In „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ werden diese Möglichkeiten zwar einfühlsam, doch in ihren persönlichen Konsequenzen unverschnörkelt ausgebreitet. Das geht keineswegs ohne Komik ab, die Tragik überwiegt jedoch ganz eindeutig. Den Streifen als „liebenswert-skurril gezeichneten Mikrokosmos“ (NDR) zu apostrophieren oder gar als „beste deutsche Komödie seit langem“ (moviepilot.de) aufs Podest zu heben, ist infolgedessen zu viel des Lobes, weil in die falsche Richtung gepriesen. Ebenso überzogen ist eine Bewertung als „arg langweilig geraten“ (epd-film.de).

Nebenbei erfahren jene Zuschauer, die daheim von ihrer Waschmaschine genervt sind, weil diese im Schleudergang wegen einer Unwucht regelmäßig Veitstänze aufführt, wobei dieser technische Makel doch ganz hilfreich sein kann.

„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, Drehbuch (Mit-Autorin) und Regie: Sonja Heiss. Derzeit in den Kinos.

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Bernd Michael Lade dürfte nicht ganz so jungen Fernsehzuschauern noch als MDR-Tatortkommissar Kain und als solcher Partner von Peter Sodann (Kommissar Ehrlicher) in Erinnerung sein; beide bildeten das erste Tatortteam aus den damals nun wirklich noch jungen Bundesländern. Lade spielte diese Rolle insgesamt in 45 Folgen (von 1992 bis 2007).

Vor nun auch schon wieder etlichen Jahren schrieb Lade das Drehbuch für den Film „Das Geständnis“ – über die Arbeit einer, wie es in der DDR hieß, Morduntersuchungskommission im letzten kompletten Jahr der kleineren deutschen Republik, 1989, beschäftigt mit Kriminalfällen, die im realen Sozialismus eigentlich nicht vorkommen sollten. Regie und Hauptrolle übernahm Lade selbst, und im Team waren Multitaskingtalentierte wie Maria Simon (Produktion, Darstellerin), Michael Kobs (Produktion, Musik, Schnitt) und Guntram Franke (Produktion, Musik).

Dieses Quintett hat vermutlich gut funktioniert, denn es fand sich in ähnlicher Konstellation wieder zusammen – dieses Mal für den Streifen „Der Zeuge“.

Dieser Carl Schrade – eine reale Figur, selbst langjähriger KZ-Insasse, aber „nur“ als Krimineller, weswegen ihm nach dem Krieg in der BRD eine Entschädigung verweigert wurde – gibt vor einem US-Militärgericht Auskunft über den von Brutalität und Folterungen, Arbeitssklaverei, Unterernährung, fehlender Hygiene und gesundheitlicher Vernachlässigung sowie jederzeit möglichen willkürlichen Tötungen geprägten Alltag in Konzentrationslagern in Deutschland, wie Buchenwald und Sachsenhausen. Die waren zum Teil bereits unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nazis eingerichtet worden. Die spätere industrielle Menschvernichtung in den Tötungsfabriken im Osten – in Auschwitz, Sobibor, Treblinka und anderen Lagern – ist daher nicht Gegenstand dieses Filmes. Doch bietet er in Gestalt der angeklagten Gestapo- und SS-Schergen ein Panorama von Hitlers willigen Vollstreckern, ohne die weder das Lagersystem noch der Holocaust zu exekutieren gewesen wäre – vom Wachmann über den Lagerarzt und den stellvertretenden Kommandanten bis zu Ilse Koch, Frau von Karl Koch, dem unter anderem Buchenwald unterstand, während sie Lampenschirme und anderes aus der Haut ermordeter Häftlinge, vorzugweise tätowierter, fertigen ließ.

Lade gelingt auf diese Weise eine eindringliche Geschichtsstunde insbesondere für die Nachgeborenen, denen diese Periode der jüngeren deutschen Geschichte während ihrer Schulzeit allenfalls noch ansatzweise nahegebracht wird. Und obligatorische Besuche von KZ-Gedenkstätten gehören bekanntermaßen nicht dazu.

„Der Zeuge“, Drehbuch, Regie und Hauptrolle: Bernd Michael Lade. Derzeit in Programmkinos.