Gewöhnlich rufen Parlamentswahlen im bevölkerungsarmen Estland außerhalb des Ostseeraumes kaum größeres Interesse hervor. Wer wollte schon näher verstehen, was es mit den Feinheiten im jeweiligen Machtkampf an den nördlichen Ostseestränden auf sich hat! In diesem Jahr ist es anders, plötzlich kam dem Rennen um die 101 Parlamentssitze in Tallinn am 5. März 2023 noch eine ganz andere Bedeutung zu. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte die estnische Regierung unter Kaja Kallas nie einen Zweifel aufkommen lassen an der entschiedenen Unterstützung für das überfallende Land. Und den Worten Taten folgen lassen, so die Verpflichtung, ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die militärische Unterstützung der Ukraine aufzuwenden. Umgerechnet auf den einzelnen Kopf trägt Estland nachweisbar die größte Last unter den Ländern der westlichen Allianz, die Kiew unterstützen.
Im Wahlkampf erwuchs der liberalen Reformpartei von Ministerpräsidentin Kallas die größte Konkurrenz mit der nationalkonservativen Ekre (Estnische Konservative Volkspartei) unter Martin Helme. Helme hatte einen scharfen Kurs gegen die Regierungspolitik in der Ukrainefrage verordnet, angekündigt, im Falle eines Wahlsieges von der überzogenen Unterstützung Kiews abzurücken. Er versprach dem Wahlvolk, im Falle eines Wahlsieges die üppige materielle Unterstützung zurückzufahren, zudem die offenen Türen für die vom Krieg bedrängten Menschen aus der Ukraine zu schließen. Seinen Absichten schien die hohe Inflationsrate von aktuell 17 Prozent in die Hände zu spielen. Estland, so die Nationalkonservativen warnend, müsse – um die eigene nationale Sicherheit nicht weiter zu gefährden – heraus aus der Spirale von immer mehr weitergehender Waffenhilfe hinein in das Kriegsgebiet. Die unmittelbare Nachbarschaft zu Russland erheische zudem gesonderte Anforderungen, die ein solch kleines Land wie Estland und insbesondere mit seiner Nationalitätenzusammensetzung beachten müsse. Fast klang es manchmal, als sollte da gar einer wiederaufgefrischten „Finnlandisierung“ aus längst vergangenen Sowjetzeiten das Wort geredet werden, wobei allerdings die Nato-Mitgliedschaft nicht infrage gestellt wurde. Damals hatte Finnland zwar die freie Wahl beim sozialökonomischen und politischen System, doch mussten gegenüber dem großen Nachbarn im Osten einige weitergehende Zugeständnisse gemacht werden.
Viele erwarteten schließlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen, insbesondere schien fraglich, ob die Kallas-Partei nach den Wahlen eine Regierungsmehrheit finden werde. Am Wahlabend wurden – zeitnah berichtet in den Medien – zunächst die in den Wahllokalen abgegebenen Stimmen ausgezählt, knapp 50 Prozent der Gesamtstimmen. Hier hatten die Nationalkonservativen einen Vorsprung von fast 10 Prozentpunkten. Dann kam die andere Hälfte der Wählerstimmen hinzu, die in einem Online-Verfahren abgegebenen Stimmen, mit denen das Pendel kräftig in die andere Richtung ausschlug. Online konnte die Wahlstimme bis zum Wahltag abgegeben werden, die so abgegebene Stimme war allerdings wieder korrigierbar, nur die letzte Stimme zählte dann. Außerdem durfte am Wahltag selbst das Wahllokal aufgesucht werden, dann zählte eben die dort abgegebene Stimme, die elektronische Stimmabgabe wurde ungültig. Nachdem die Stimmen im elektronischen Verfahren am Wahlabend eingepflegt waren, stand plötzlich der glänzende Wahlsieg für die Kallas-Partei und für die Ministerpräsidentin selbst fest: Mit 31,2 Prozent der abgegebenen Stimmen distanzierte die Reformpartei die nationalkonservativen Herausforderer überaus deutlich, die 16,1 Prozent Stimmenanteil erreichten, was sogar noch leicht unter dem Wahlergebnis von 2018 lag. Helme reagierte sauer, sprach von „kontrollierbaren und nachzählbaren Stimmen“, bei denen man gewonnen habe, und von „elektronischen Stimmen“, die dann alles wieder auf den Kopf gestellt hätten.
Die Partei der Ministerpräsidentin hat nun die Qual der Wahl, denn von gemäßigt konservativ bis linksliberal und sozialdemokratisch stehen mehrere Optionen offen, um den eigenen 37 Parlamentssitzen die fehlenden Sitze für eine Mehrheit von 51 Sitzen hinzuzusetzen, mit der eine neue Regierungskoalition abgestützt wäre. Mit stärkeren Verlusten von knapp 7 Prozentpunkten kam die Zentrumspartei mit 15,3 Prozent der abgegebenen Stimmen auf den dritten Platz ein. Die Zentrumspartei, sozialdemokratisch ausgerichtet, gilt als wichtigstes politisches Sprachrohr für die russische Minderheit in Estland, die etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht. Sie spricht sich für die Mitgliedschaft in EU und Nato aus, hält das Vorgehen des Kremls gegen die Ukraine für einen schweren politischen Fehler. Auch damit werden die Verluste zusammenhängen, weil die Stimmungslage im russischen Bevölkerungsteil sehr viel zerrissener sein dürfte. Allerdings ist der Zentrumspartei erspart geblieben, was im benachbarten Lettland im Oktober letzten Jahres der sozialdemokratischen Saskaņa-Partei zum Verhängnis wurde. Saskaņa – das einst stolze politische Flaggschiff der russischen Minderheit, die in Lettland ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht – hatte bei den Parlamentswahlen 2011, 2014 und 2018 mit jeweils über 20 oder knapp 20 Prozent der abgegebenen Stimmen als stärkste Partei abgeschnitten, was 2018 eine Fünfparteienkoalition der anderen erforderlich machte, um sie nicht ans Regierungsruder zu lassen. 2022 waren die Stimmenverluste indes so heftig, der Absturz so gewaltig, dass der Einzug ins Parlament verfehlt wurde, weil die fünfprozentige Eingangshürde nicht mehr genommen werden konnte.
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