26. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2023

(Vor-)Kriegspropaganda

von Erhard Crome

In deutschen Medien wird mit Vorliebe und voller Eifer auf lautstarke Propagandabekundungen im russischen Fernsehen verwiesen. Der gemeine Leser oder Hörer kann das ohnehin nicht nachprüfen, weil er weder russisch versteht noch russisches Fernsehen empfangen kann. Max Klein hat in seinem klug argumentierenden Text unter der Überschrift „Beendet diesen Krieg“ (Blättchen, 3/2023) auf den Zusammenhang von realem Krieg vor Ort und der Propagandaschlacht um den Krieg verwiesen.

Dazu sei zunächst angemerkt: Hier handelt es sich um eine wechselseitige Fehldarstellung. Moskau behauptet, der „kollektive Westen“ führe einen Krieg gegen Russland, führt selbst in der Tat aber einen Regionalkrieg in der Ukraine. Der Westen beharrt darauf, dass es ein lokaler Krieg der Ukraine zu ihrer Verteidigung sei, den er lediglich unterstütze, führt tatsächlich aber einen breit angelegten Krieg gegen Russland, in Gestalt von Waffenlieferungen für die ukrainischen Streitkräfte, eines Wirtschaftskrieges und eines Propagandakrieges. Russland soll als relevante Macht aus der internationalen Politik verdrängt werden.

Die westliche Propaganda begann allerdings lange vor dem Februar 2022 damit, diesen Konflikt anzupeitschen. Zu erinnern ist zunächst an den Februar 2014. Die USA sowie Deutschland und die EU taten ab November 2013 alles, die Ukraine von Russland zu lösen und sie als Peripherie an sich zu binden. Nach monatelangen organisierten Protesten auf dem Kiewer Maidan-Platz und blutigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und bewaffneten Oppositionellen, die am Ende als rechts-nationalistische, sogar faschistische Einheiten identifiziert waren, wurde der rechtmäßig gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch gestürzt.

Behauptet wurde, bei den Protesten auf dem Maidan-Platz sei es um das beabsichtigte Freihandelsabkommen mit der EU gegangen. Der „Regime Change“ war jedoch offensichtlich kein „Kollateralschaden“. In Deutschland wird nach wie vor verbreitet, auf dem Maidan seien im November 2013 demokratisch gesinnte EU-Begeisterte unterwegs gewesen, die dann den Regimewechsel auslösten. Der Journalist Reinhard Lauterbach, der damals auf dem Maidan war, beschrieb das anders: „Wer an Wunder in der Politik glaubt, dem stand es naturgemäß frei, sich die Pro-EU-Demonstrationen, die am 21. November 2013 […] begannen, als spontanes Aufbegehren einer europabegeisterten Mittelschicht zu erklären.“ Zentrale Parole war: „Die Ukraine gehört zu Europa!“

Das hatte zwei Voraussetzungen. Die eine ist ein „extrem schöngefärbtes und illusionäres Bild von EU-Europa“. Es hieß, Janukowitsch habe mit seiner Verweigerung, die Unterschrift zu leisten, die Tür „nach Europa“ zugeschlagen. Die andere Voraussetzung war die reale Lage in der Ukraine. Das Durchschnittseinkommen betrug etwa ein Zehntel dessen in Deutschland und ein Drittel des polnischen Durchschnittseinkommens. In der Gesellschaft herrschte ein System von Vetternwirtschaft und extremer Korruption, das sich auch in Zeiten des Krieges und der Not der Bevölkerung als „resilient“ erweist. Millionen von Männern aus der Westukraine verdienten ihren Lebensunterhalt als Bauarbeiter oder Erntehelfer in Deutschland oder Polen, viele Frauen als Kinderfrauen in Warschau oder Altenpflegerinnen in Italien oder Österreich. So gewann das „Europa-Bild“ eine eigene Attraktivität: wenn die Ukraine „dazugehört“, muss man nicht mehr migrieren, dann ist es „hier“ wie dort. 

Aber dies war lediglich eine westukrainische Perspektive. Zur selben Zeit fuhren etwa zwei Millionen Menschen regelmäßig nach Moskau oder St. Petersburg zur Arbeit und wollten diese Beziehungen nicht gefährden. Insofern hatten der Maidan und die EU-Orientierung in der Westukraine und die Errichtung der „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk im Osten und ihr Bezug zu Russland ihre Grundlagen in den realen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der post-sowjetischen Ukraine.

Auf dem Maidan wandelten sich bald die Akteure. Die europabegeisterten Mittelschichtsmenschen standen in Arbeitsverhältnissen und hatten Familie. Sie kamen ab Dezember 2013 nur noch abends auf den Maidan oder zu Demonstrationen am Wochenende. Die „Aktivisten“, die auf Dauer auf dem Maidan ausharrten, waren Anhänger der Oppositionsparteien aus der Provinz, „die im Wochenrhythmus Demodienst in Kiew machten“, oder Arbeitslose, die für ein Tageshonorar plus Kost und Logis angeheuert wurden. Zugleich tauchten olivgrüne Steilwandzelte auf, um den Aktivisten ein Nachtquartier zu bieten, Stromgeneratoren und mobile Bolleröfen, wie man sie von deutschen Stahlarbeiterstreiks kannte, die aber nicht zur Ausstattung ukrainischer Privathaushalte gehören. Hinzu kamen bald Feldküchen, Kleiderausgabestationen, eine professionelle Bühne mit Ton- und Videotechnik sowie ein eigenes WLAN.

Im Januar 2014 hatte sich aus der regelmäßigen Kundgebung der „Rechte Block“ herausgelöst, um das Regierungsviertel zu stürmen, verstärkt wurde dies nach dem 18. Februar versucht. Jetzt ging auch die Polizei gewaltsam vor und setzte Schusswaffen ein, ebenso  militante Demonstranten. Am Ende kamen mindestens 60 Personen ums Leben. Eine leitende Ärztin des Maidan-eigenen Rettungsdienstes berichtete, in den Körpern verletzter und getöteter Polizisten sowie von Demonstranten wurden identische Geschosse gefunden. Offenbar wurden durch Scharfschützen Personen auf beiden Seiten getötet, um durch weitere Eskalation den politisch angeschlagenen Janukowitsch abschließend zu verunmöglichen. Nach dem Regimewechsel wurde zugesichert, dies aufklären zu wollen. Das erfolgte jedoch bis heute nicht.

Am 21. Februar 2014 erschienen der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der französische Laurent Fabius sowie der polnische Radosław Sikorski in Kiew, um Janukowitsch eine Verfassungsreform und vorgezogene Präsidentenwahlen abzunötigen. Der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin war ebenfalls angereist, weigerte sich jedoch, dieses Papier zu unterzeichnen. Die rechten Führer des Maidan, Arsenij Jazenjuk, der dann vom 27. Februar 2014 bis zum 14. April 2016 ukrainischer Regierungschef war, und Andrij Parubij, vom 27. Februar bis 7. August 2014 Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, hatten die Vereinbarung über den kontrollierten Machtwechsel ebenfalls unterzeichnet, weigerten sich dann jedoch, sie umzusetzen. (Eine Taktik, der später die Kiewer Regierung auch in Sachen Nicht-Umsetzung des Minsker Abkommens folgte.) Am Nachmittag des 21. Februar eroberten rechte Stoßtrupps das Regierungsviertel, Janukowitsch floh, erst nach Charkow, dann nach Russland. Die drei EU-Außenminister zogen von dannen, ohne zu insistieren. Joe Biden, damals Vizepräsident der USA, räumte später ein, Jazenjuk und Parubij hätten in jenen Tagen in stündlichem Telefonkontakt mit dem US-Botschafter gestanden.

In Bezug auf die Medienberichterstattung in Deutschland ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen standen die deutschen Medien damals bereits im Dienste der gemachten Politik. Zum anderen wurde das jedoch noch öffentlich kritisiert. So schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (03.10.2014) unter der Überschrift: „Ukraine-Berichterstattung: Fehlschüsse der ARD“, dass der zuständige erste Chefredakteur der Nachrichtenredaktion ARD aktuell, Kai Gniffke, zwar beteuert hatte, „die Nachrichten blieben der Inbegriff der Seriosität“, fragte sich anschließend aber offenbar nicht nur rhetorisch: „Hat das Erste also mit Bildern gelogen?“ Es waren Bilder gezeigt worden, die einen von den „Separatisten“ im Osten der Ukraine abgeschossenen ukrainischen Hubschrauber zeigen sollten – tatsächlich war das ein syrischer Hubschrauber. Am 20. Mai 2014 tauchten in den „Tagesthemen“ Bilder auf voller Menschen, die orangefarbene Fahnen schwenkten und angeblich in einem Stadion in Donezk gegen die „prorussischen Separatisten“ protestierten. Bald darauf ging ein Video durch die sozialen Medien, das dasselbe Stadion am Tag des Protestes zeigte: es war fast leer, nur ein versprengtes Grüppchen schwenkte Flaggen. Dazu notierte Gniffke im „Tagesschau“-Blog: „Wir haben nie behauptet, dass im Stadion ‚Zehntausende‘ Menschen waren.“

Das politische Online-Magazin Telepolis (18.09.2014) berichtete über eine Sitzung des Programmbeirates der ARD im Juni 2014, der die Berichterstattung der größten öffentlichen Medienanstalt über den Ukraine-Konflikt kritisierte. Differenzierende Berichte über die Verhandlungen der EU über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine hätten gefehlt, die politischen und strategischen Ziele der NATO mit ihrer Osterweiterung wurden nicht thematisiert, die Rolle der „radikal nationalistischen Kräfte“ auf dem Maidan kam nicht vor, auch nicht beim Scheitern „der Vereinbarung zur Beilegung der Krise in der Ukraine vom 21. Februar“. Die fehlende „Verfassungs- und Demokratiekonformität“ der Absetzung Janukowitschs und die Rolle der Rechtsradikalen dabei waren nicht Gegenstand der ARD-Berichterstattung. Intendant Tom Buhrow und Fernsehdirektor Jörn Schönenborn (beide WDR) verteidigten gegenüber der Kritik „eine redaktionelle Linie, die sich darauf konzentriert, die ‚westlichen Positionen zu verteidigen‘.“ Gniffke ging noch weiter: „Es gibt keinen Grund, sich für Fehler zu entschuldigen“. Seit 2019 ist Kai Gniffke Intendant des Südwestrundfunks (SWR) und seit 1. Januar 2023 Vorsitzender der ARD. Wahrscheinlich wegen seiner damaligen „Verdienste“.