Es ist doch merkwürdig, wie der Zufall so spielt: Da zieht jemand um und vergisst etwas mitzunehmen. Nicht weil es beim Einpacken übersehen wurde, sondern weil es nach Jahren ganz einfach aus dem Blick geraten war. So geschehen in der Liselotte-Herrmann-Straße 20 in Hoyerswerda. Im Januar 1960 war das Schriftstellerehepaar Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann hier eingezogen. Reimann verabscheute dieses Haus, „das einer Riesen-Bienenwabe gleicht, vollgestopft mit bedrohlich fremden Menschen und stets von Lärm erfüllt“. Acht Jahre sollte sie hier leben und schreiben. Am 18. November 1968 notierte sie in ihrem Tagebuch: „Der letzte Tag in Hoyerswerda. 6 Uhr früh; gleich kommt der Möbelwagen.“ Ein letztes Mal zog sie um. Die neue Adresse lautete: Gartenstraße 6, Neubrandenburg.
Frühjahr 2022: Am Wohnhaus Liselotte-Herrmann-Straße 20 beginnen die Sanierungsarbeiten. Bauarbeiter sind gerade dabei, den Keller auszuräumen, als sie unter dem letzten Treppenabsatz auf einen Verschlag stoßen. Die meisten darin befindlichen Sachen landen im Container, doch ein Konvolut von Papieren macht sie stutzig. Offenbar bringen sie die am Haus befindliche Gedenktafel mit diesen schriftlichen Hinterlassenschaften in Verbindung – und sie haben Recht. Als die Mitarbeiter des Stadtmuseums Hoyerswerda das Ganze sichten, stellt sich heraus, dass die Dinge einstmals Brigitte Reimann gehörten. Eine nähere Untersuchung fördert schließlich die Sensation zutage. In einem unscheinbaren DIN-A5-Heft findet sich die handschriftliche Urfassung der ersten fünf Kapitel von Reimanns 1963 veröffentlichtem Roman „Die Geschwister“, zudem gibt es ein Typoskript, das vor allem Textteile aus der Mitte des Buches enthält.
Auf der Grundlage dieses bedeutsamen Fundes und unter Berücksichtigung der sprachlichen und stilistischen Veränderungen, die Reimann für die 1969 erschienene Neuauflage vorgenommen hatte, haben die beiden Lektorinnen Angela Drescher und Nele Holdack jetzt eine ungekürzte, mit einem ausführlichen Nachwort versehene Neuausgabe der „Geschwister“ vorgelegt. Dass das Buch vor 60 Jahren der „Aufreger“ war – zeitgleich erschien übrigens Christa Wolfs inhaltlich korrespondierende Erzählung „Der geteilte Himmel“ –, werden heute wahrscheinlich nur noch diejenigen verstehen, die in dieser Zeit aufgewachsen sind oder sich intensiv damit beschäftigt haben. Vielleicht sollte für eine Nachauflage über eine entsprechende Materialsammlung als Anhang nachgedacht werden – eine Aufwertung wäre es allemal. Dennoch! „Die Geschwister“ sind auch für uns Heutige ein Lehrstück zu der Frage, was von den erlebten und erfahrenen Gemeinsamkeiten bleibt, wenn jeder nur seinen Idealen leben will.
Worum ging es in dem Roman? Ostern 1961 erfährt die junge Malerin Elisabeth, dass nach ihrem Bruder Konrad und dessen Frau Charlotte nun auch ihr über alles geliebter zweiter Bruder Uli in den Westen gehen will. „Ich fühle mich wie ein Gefangener“, rechtfertigt er sich, „hinter einem Gitter von Dummheit und Bürokratie, ich habe keinen Spaß mehr an der Arbeit und keinen Spaß an alldem, was wir als Studenten angestellt haben, das ganze Leben ist mir zuwider. Ich muss weg, hörst du, sofort, eh ich hier was anrichte …“ Nur noch wenige Tage bleiben Elisabeth, um Ihren Bruder von seinem Entschluss abzubringen.
Im wahren Leben konnte Brigitte Reimann ihren Bruder Lutz nicht davon abhalten, in den Westen zu gehen. „Spüre zum ersten Mal schmerzlich – und nicht nur mit dem Verstand – die Tragödie unserer zwei Deutschland. Die zerrissenen Familien, das Gegeneinander von Bruder und Schwester – welch ein literarisches Thema! Warum wird es von keinem gestaltet, warum schreibt niemand ein gültiges Buch? Furcht? Unvermögen? Ich weiß nicht.“ So lautete ihr Tagebucheintrag vom 29. April 1960. Zwölf Monate später machte sie sich an die Arbeit: „Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und will die Geschichte beginnen, von der ich seit Tagen träume, ,Die Geschwister‘, die Geschichte von meinem Lutz-Bruder (wie sie rechtens hätte laufen müssen und in der Wirklichkeit eben nicht lief), und ich war elektrisiert und begeistert, und nun, da es so weit ist, da ich endlich Zeit habe, ist alles fort. Immer dasselbe …“
1962 hielt sich Reimann im Schriftstellerheim in Petzow auf. Erste Zweifel am Stoff ihres Buches kamen auf. „Meine Geschichte wird immer problematischer, ich habe das dunkle Gefühl, dass sie nicht gedruckt wird. Das hebt den Arbeitseifer ungemein. Trotzdem schreibe ich sie so, wie ich es mir nun mal vorgenommen habe.“ Zurück in Hoyerswerda schloss sie das Manuskript am 20. Juli 1962 ab, einen Tag vor ihrem 29. Geburtstag.
Die Reaktion des Verlages war ernüchternd, „entsetzliche Aufregung wegen der ,Geschwister‘. Das Manus[kript] mit den Änderungsvorschlägen ist zurückgekommen, die Stasi-Szene gestrichen, die Kunst-Diskussion gestrichen; alles, was an Gefühl oder gar – horribile dictu! – an Bett gemahnt, ist gestrichen, und jetzt kann man meine schöne Geschichte getrost in jedem katholischen Mädchenpensionat auslegen. Na … Am Montag kommt der Lektor, der wird sich freuen. Wenn der Verlag starr bleibt, gehe ich zu einem anderen. Jetzt wird nicht mehr lamentiert, jetzt wird geboxt.“
Und es wurde „geboxt“ – aber letztendlich doch gestrichen, wie die Urfassung jetzt zeigt. Lektor Fritz Hofmann verteidigte das endgültige Manuskript gegenüber dem Ministerium für Kultur. Ein erstes sogenanntes „Außengutachten“ war vernichtend und sprach von einer „sehr problematischen und künstlerisch unausgereiften Arbeit“. Der Verlag holte ein zweites Gutachten ein, darin war zu lesen: „Das Verdienst der Erzählung scheint mir darin zu liegen, daß sie die Probleme überhaupt anschneidet, und sicher ist der Nutzen, den sie durch die Anregung einer eventuellen Diskussion gibt, bedeutender als der Schaden, der durch die vereinfachte Darstellung der Probleme entsteht.“ Das überzeugte. Am 8. Oktober 1962 erteilte das Ministerium trotz der im Buch enthaltenen kritischen Töne die Druckgenehmigung. Endlich, am 18. April 1963, trafen die Belegexemplare der „Geschwister“ in Hoyerswerda ein. Brigitte Reimann hatte es geschafft. 1965 brachte ihr das Werk den renommierten Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste ein.
Bis heute gilt, was die Herausgeberinnen in ihrem Nachwort schreiben: „Die viel zu jung gestorbene Brigitte Reimann hinterließ uns das vielleicht beeindruckendste zeitgenössische Buch über die menschlichen Konflikte der deutschen Teilung – eine zeitlose Geschichte über Zugehörigkeit und Individualität, über Loyalität und den Mut, für die eigene Vorstellung von Freiheit und Glück einzustehen.“
*
Nicht nur mit Neu- und Nachauflagen ihrer Bücher wird in diesem Jahr des 50. Todestages und des 90. Geburtstages von Brigitte Reimann gedacht. So finden in ihrer Geburtsstadt Burg und an ihrem letzten Wohnort Neubrandenburg zahlreiche Lesungen, Diskussionsrunden, Führungen, Ausstellungen und Filmgespräche statt.
Brigitte Reimann: Die Geschwister, hrsg. von Angela Drescher und Nele Holdack, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 212 Seiten, 22,00 Euro.
Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Mein Weg zur Schriftstellerin 1955 – 1970, hrsg. von Angela Drescher, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 589 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Brigitte Reimann, Burg, Geschwister, Hoyerswerda, Mathias Iven, Neubrandenburg