26. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2023

Neues von der Grünen Insel

von Brigitta Wagner

„In Irland ist das Volk die katholische Kirche
und die katholische Kirche ist das Volk.”

George Bernard Shaw

Im Schatten des wahrlich ereignisreichen Jahres 2022 im Vereinigten Königreich vollzogen sich in Nordirland und in der Republik Irland relativ unbeachtet von der Weltöffentlichkeit markante Veränderungen.

Im Mai 2022 gewann Sinn Féin (Irisch für „Wir selbst“) zum ersten Mal eine Mehrheit in der Geschichte Nordirlands, mit einem Wahlergebnis von 29% in der Nordirland-Versammlung. In allen vorher abgehaltenen Wahlen hatte die Democratic Unionist Party (DUP) den höchsten Stimmenanteil.

Sinn Féin wurde 1905 gegründet mit dem Ziel, einen unabhängigen irischen Staat zu schaffen. Sinn Féin ist heute sowohl in der Nordirland-Versammlung mit Sitz im Stormont als auch in der Republik Irland im Parlament vertreten (dort mit 24,5% im Unterhaus). Die Sinn-Féin-Mandate Nordirlands und der Republik Irland werden im Europaparlament kumuliert. Als Vertreter in beiden Teilen Irlands gehört Sinn Féin der Fraktion Die Linke an.

In dem langen Bestreben der Partei um Unabhängigkeit von Großbritannien wandte sich Sinn Féin parlamentarischen Mitteln, Mitteln des friedlichen Ungehorsams und paramilitärischer Mittel der IRA zu.

Der Kampf um irische Unabhängigkeit durchlief im Lauf der Jahrhunderte unterschiedliche Phasen. Ziel des Osteraufstandes von 1916 war nicht nur eine unabhängige Republik Irland. Die Kämpfer um James Connolly wollten einen sozialistischen Staat errichten. Dieser Versuch scheiterte. Großbritannien gelang es, durch den massiven Einsatz regulärer britischer Truppen den Osteraufstand 1916 niederzuschlagen und den führenden Kopf des Aufstandes, James Connolly, gefangen zu nehmen und hinzurichten. Den jahrelangen militärischen Auseinandersetzungen folgte die Teilung des Landes 1922 und die Gründung des Irischen Freistaates, der heutigen Republik Irland. Sechs nordirische Grafschaften mit dem höchsten Industrialisierungsgrad Irlands und einer protestantischen Mehrheit verblieben im Vereinigten Königreich.

Über die Jahrzehnte hinweg wurde in Nordirland zumeist nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft gewählt. Protestanten wählten mehrheitlich Unionisten und Katholiken wählten  Sinn Féin oder andere kleinere Parteien. Beide Religionsgemeinschaften wohnten in streng getrennten Wohnbezirken und gingen in verschiedene religiös geprägte Bildungseinrichtungen. Seit den ersten Unabhängigkeitsbestrebungen um 1790 erlebten katholische Bewohner der Insel unterschiedliche Formen der Unterdrückung, sei es durch Benachteiligung als Pächter von Land, bei der beruflichen Eingliederung in den Staatsdienst und in reguläre Arbeitsverhältnisse oder bei der Versorgung mit Wohnraum.

In den verharmlosend „Troubles“ genannten Jahren von 1968 – 1973 wurde die britische Armee mit dem Ziel der Friedenssicherung nach Nordirland gesandt. Tatsächlich stellten sich alle britische Regierungen, Konservative wie Labour, auf die Seite der Unionisten, die sich stets als loyale Befürworter der Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich erwiesen. Die provokativen Aufmärsche des Oranierordens (der Name geht zurück auf König Wilhelm von Oranien, der einem militanten Protestantismus huldigte) lösten häufig Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften aus. Alljährlich im Juli marschieren die Anhänger des Ordens in der Nähe katholischer Wohnviertel, Freudenfeuer anzündend, Steine in die katholischen Wohngebiete werfend, auf diese Weise an den Sieg der Protestanten über die Katholiken 1790 erinnernd. Im 20. Jahrhundert charakterisierte Thomas Alfred Jackson den Oranierorden in seinem geschichtlichen Abriss „Ireland Her Own“ als erste faschistische Organisation in Irland. Betrachtet man die aktuelle Internetadresse der Oranierloge kann man kaum Rückschlüsse auf die politische Strategie dieser Vereinigung ableiten, die Selbstauskünfte sind äußerst knapp und nichtssagend gehalten.

In den letzten Jahren veränderte sich die demographische Zusammensetzung der nordirischen Bevölkerung zugunsten einer knappen katholischen Mehrheit, die im Jahr 2022 erstmals in den Wahlergebnissen ihren Niederschlag fand.

Die nordirischen Unionisten, vertreten durch DUP, beseelt der Gedanke fortdauernder Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich. Nach dem beschlossenen Nordirland-Protokoll der Brexit-Verhandlungen wurde eine Zollgrenze zwischen Nordirland und der britischen Insel in der Irischen See festgelegt. Die nordirischen Unionisten argwöhnen, dass sich aus der Zollgrenze ein Schritt in Richtung politische und wirtschaftliche Vereinigung mit der Republik Irland anbahnen könne. Ende des Jahres 2022 fordern die nordirischen Unionisten vehement eine Neuverhandlung des Nordirland-Protokolls und verweigern seit den Wahlen im Mai eine gemeinsame Regierungsbildung unter Führung von Sinn Féin.

Bereits im Februar 2020 gelang Sinn Féin ein unerwarteter Wahlsieg bei den Wahlen in der Republik Irland. Eine Regierungsbeteiligung gelang nicht, da die Partei vor der Wahl keine ausreichende Zahl von Kandidaten aufgestellt hatte und die anderen im irischen Unterhaus vertretenen Parteien kategorisch eine gemeinsame Regierung mit Sinn Féin verweigerten. Bisher regierte eine Dreier-Koalition aus Fine Gael (Gälische Einheit), Fianna Fáil (Soldaten des Geschicks) und Grüner Partei im irischen Unterhaus. Verabredungsgemäß übernahm in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode Leo Varadka (Fine Gael) die Position des Premierministers, die bisher von Micheal Martin (Fianna Fáil) besetzt wurde. Die beiden Parteien sind ehemals aus Sinn Féin hervorgegangen. Sie befürworten den Erhalt der gälischen Sprache und engagieren sich für die irische Volkskultur mit der Absicht, den Gedanken an eine staatliche Autonomie auf der gesamten irischen Insel wachzuhalten.

Mit Leo Varadka tritt ein Politiker das höchste Amt in Irland an, der einer indischen Einwandererfamilie entstammt, 1979 in Dublin geboren wurde, ursprünglich Medizin studierte und einen Teil seiner akademischen Ausbildung in Indien und den USA absolvierte. Nach eigener Aussage wandelte er sich nach intensiven Gesprächen mit betroffenen Frauen von einem Pro-Lifer (Abtreibungsgegner) zu einem Befürworter von Schwangerschaftsabbrüchen. 2015 outete er sich als schwul und engagierte sich für gleichgeschlechtliche Ehen.

In der katholisch geprägten Republik Irland stimmten 2018 trotz massiver Einflussnahme der irischen katholischen Kirche 66 % der Wähler für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und 33 % dagegen. Über die weltweit bekannt gewordenen Fälle des Kindesmissbrauchs durch römisch-katholische Priester hinaus ereigneten sich in den Magdalenenheimen ausschließlich gegen junge Frauen gerichtete Gewaltexzesse, Zwangsadoptionen und Ausbeutungsverhältnisse. Die gewandelte Einstellung zum Thema Homosexualität, der Sieg der Befürworter von Schwangerschaftsabbrüchen, gleichgeschlechtlicher Ehen und die wachsende Bereitschaft, sich der Indoktrination durch die katholische Kirche zu entziehen, verdeutlichen die schwindende Deutungshoheit der katholischen Kirche.

Im Oktober 2022 fand eine gemeinsame Veranstaltung mit Vertretern verschiedener Parteien und zivilgesellschaftlicher Bewegungen aus dem Norden und Süden Irlands statt, in der über Wege zu einem vereinigten Irland diskutiert wurde. Erstaunlicherweise trafen sich einst verfeindete Kräfte zu einem gemeinsamen Gedankenaustausch, die sich vor Jahren nicht an einen Tisch gesetzt hätten. Reverend Kyle Paisley, wie sein Vater Ian Paisley Politiker der DUP, sprach über die „Aussicht eines vereinigten Irlands als nicht mehr so abwegig als es einst erschien“. Es wäre eine „Herkulesaufgabe“ einen Teil moderater Unionisten für dieses Ziel zu gewinnen. Das sind Gedanken, die der presbyterianische Pfarrer Ian Paisley weit von sich gewiesen hätte.

Alle beteiligten politischen Kräfte der Regierungen Großbritanniens, Irlands und der Nordirlands scheinen sich darin einig zu sein, die gegensätzlichen Interessen friedlich beilegen zu wollen. In der Mehrheit der relevanten Parteien und Strömungen fand ein Generationswechsel statt, der zu Kompromissen bereit scheint und militärische Auseinandersetzungen kategorisch ausschließt.

Undenkbares darf jetzt in Irland gedacht werden, Unsagbares darf heutzutage in Irland gesagt werden. Nicht zu unterschätzen sind allerdings die anstehenden Probleme auf vielen Gebieten. Viele Hindernisse sind zu überwinden, um die über Jahrzehnte entstandene Atmosphäre der Gewalt und des Misstrauens auszuräumen.

In den Zeiten der gemeinsamen Mitgliedschaft in der EU haben sich für alle Seiten wirtschaftliche Beziehungen etabliert, die auf eine gegenseitig vorteilhafte Entwicklung hoffen lassen.