So viel du liest in deinem Leben, du wirst
nicht allzu viel erfahren, und lernen wirst du
beinahe nichts.
Jemand nahm dich bei der Hand, du lerntest
das Laufen. Jemand wiederholte dein erstes Wort
solange, bis du es ihm schenktest.
Ins Schwimmen kamst du wie zum Fahrradfahren,
weil dich der Vater hielt; er lehrte dich auch
das Schießen mit dem Luftgewehr.
Dann konntest du lesen, und du lasest die Bücher,
die dir gegeben wurden, und du verlangtest
nach den Büchern, die dir verheimlicht wurden.
Und all die Bücher, all die Mädchen, all
die Gespräche, all die Freunde, all die Stunden
in den Zimmern der Bildung
füllen dich. Du glaubst, du weißt Bescheid.
Du glaubst an Zahlen, Buchstaben, an eine
Vernunft; wie so viele, wie auch sie, Hypatia.
Nein. Du glaubst nicht. Du weißt. Aber
andere kommen, zeigen ihre Brandgesichter
und mit digitalen Fackeln auf dich. Sie wissen auch
etwas, an das sie glauben; auch sie haben
Zahlen und Buchstaben, und dass sie
keine Vernunft haben, kannst du ihnen nicht sagen,
weil ihre Vernunft nicht deine ist, und deine
ist nicht ihre, und wenn du, Hypatia, meine
Freundin, jetzt aufträtest: Sie würden dich töten
wie damals, als Zahlen und Buchstaben von den
Tafeln gewischt wurden, und es gab nur noch
Glauben. Und Dumpfheit. Und Wissen brennt gut.
Und die Sonne stieg auf, wie die Drachen
in meiner Kindheit an einer Schnur,
die von Fanatikern gehalten wurde;
nein, die Drachen meiner Kindheit waren
unschuldige, bunte Gesandte in den Himmel über mir,
dessen Rätsel ich niemals lösen würde,
aber niemals auch nicht verraten
an einen Gott oder an eine Dummheit, die
Lager-Feuer entfacht aus meinen Zahlen und Buchstaben.
So viel du liest in deinem Leben, du wirst
nicht allzu viel erfahren, und lernen wirst du
beinahe nichts. Könnte es auf das Beinahe ankommen?
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Gedicht, Hypatia