Schon lang, als das Jahr 1917 dem Ende zuging, sah man in Deutschland überall die seltsamsten Erscheinungen am Himmel und unter den Menschen. Das Merkwürdige aber war, dass am Spätnachmittag des 24. Dezember auf dem Potsdamer Platz von vielen Menschen der liebe Gott gesehen worden ist. Ein alter trauriger Mann verteilte Flugblätter. Oben stand: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, und darunter in lapidarer Schrift die zehn Gebote. Der Mann wurde von den Schutzleuten aufgegriffen, vom Oberkommando der Marken wegen Landesverrat standrechtlich erschossen. Einige Aufnehmer des Flugblattes, die die Worte des alten Mannes verteidigten, kamen ins Irrenhaus.
Gott war tot.
Ein paar Tage darauf waren unsere großen Feldherrn nach Berlin gekommen, mit der festen Absicht, durch Wort und Tat die Welt von Elend und Blut zu erlösen. So kamen sie mit den Vertretern der Friedenskonferenz zusammen. Sie kamen überein, die Welt mit dem Schwerte in der Hand vor sich in die Knie zu zwingen, erhoben sich selber zum bluttriefenden Götzen, aus dessen selbstherrlicher Hand die Menschheit ihre Gesetze empfangen sollte. Da sahen sie plötzlich, wie der totgeglaubte Mann vom Potsdamer Platz mitten unter ihnen stand und stumm auf seine zehn Gebote wies. Aber niemand wollte die ärmliche Erscheinung kennen. Da gab er sich zu erkennen und war fast seines Triumphes froh, denn er glaubte ja an die Menschheit. Der Kaiser und die Feldherrn führten seinen Namen in ihren Telegrammen, die Krieger trugen ihn auf dem Bauche, die Feldprediger hatten die schwersten Verbrechen der Menschheit durch seinen Namen geheiligt. Da aber sah Gott, dass man ihn gar nicht kennen wollte, dass man von ihm sich nur eine prunkende Form, eine Uniform behalten hatte, und aus der glotzte das goldene Kalb und beherrschte die Welt.
Da verließ Gott die Friedensversammlung und machte den ordenbesternten Götzen Platz, denn Gott will nicht siegen, Gott ist.
Die Götzen aber führten das Volk immer tiefer ins Elend und erweckten weiter Hass, Bitternis, Zerstörung und Tod, und wie sie nichts mehr hatten außer blechernden Schmucksternen und Kreuzen, verschenkten sie das gestohlene Gut ihren Völkern. Da ging Gott zu denen, die zusammengebrochen waren unter der Bürde der Leiden, unter Hass und Lügen: Es gibt über euren Götzen einen Gott, es gibt über eurem Fahneneid meine ewigen Gesetze. Es gibt über eurem Hass die Liebe.
Da gaben die Krüppel ihre blutstinkenden grauen Kleider, ihre Orden und Ehrenzeichen zurück an den Gott des Mammons, gingen unter das Volk und entheiligten die Mordwaffen und vernichteten sie. Gott aber ging zum Kaiser: Du bist Sklave des Scheins. Werde Herr des Lichtes, indem du der Wahrheit dienst und die Lüge erkennst. Vernichte die Grenzen, sei der Menschheit Führer. Erkenne die Eitelkeit des Wirkens. Sei Friedensfürst, setze an die Stelle des Wortes die Tat, Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung. In die Knie vor der Liebe Gottes, sei Erlöser, habe die Kraft des Dienens Kaiser!
Heinrich Vogeler (1872-1942), Grafiker, Maler und Architekt, nannte seinen Friedensappell, in dem er die Verlogenheit der deutschen Politik anprangerte, die einen Verteidigungskrieg versprochen hatte, aber einen schonungslosen Eroberungskrieg führte, nachträglich „Das Märchen vom lieben Gott. Brief eines Unteroffiziers an den Kaiser im Januar 1918, als Protest gegen den Frieden von Brest-Litowsk“. Der Autor wurde wegen dieses Schreibens, das er auch der Obersten Heeresleitung zukommen ließ, für 63 Tage „zur Beobachtung“ in das Bremer St.-Jürgen-Krankenhaus eingewiesen. Erich Ludendorff wollte den „Landesverräter“ erschießen lassen. Wir danken unserem Leser Dr. Gerwin Udke aus Berlin für den Hinweis auf Vogelers Friedensaufruf, dessen Wortlaut wir hier auf der Grundlage des Manuskripts vom 20. Januar 1918 veröffentlichen.
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