„Zu Besuch bei einem Sechstel der Welt“ – so lautete Anfang Dezember die großspurige Ankündigung eines nur zwei Tage währenden Aufenthalts der deutschen Außenministerin in Neu Delhi. Das Auswärtige Amt war in der Mitteilung sichtlich bemüht, Indien geradezu mit Lob zu überschütten. So heißt es, „dass es Indien gelang, in den letzten 15 Jahren über 400 Millionen Menschen aus absoluter Armut zu befreien“. Und weiter, dass dieses Land die Ausgestaltung der internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert entscheidend beeinflussen wird. Das sind neue Töne im Herangehen Deutschlands gegenüber Indien, die sich wesentlich von der bisherigen Wahrnehmung unterscheiden.
In Deutschland wurde der große südasiatische Staat bisher immer als schwer einschätzbar und die Beziehungen zu ihm als kompliziert angesehen. Indien mit seinen vielen, oft unüberschaubaren Problemen, mit Bürokratie und Armut und nicht zuletzt wegen eines wachsenden Hindunationalismus, der bis in staatliche Entscheidungen vordrang, wurde von der deutschen Politik mit Vorsicht behandelt, von Nichtregierungsorganisationen und den Medien mit heftiger Kritik überschüttet, was zu einem negativen Gesamtbild beitrug.
Ungeachtet dessen waren die Beziehungen Deutschlands zu Indien in der Vergangenheit jedoch auf solide Grundlagen gebaut. Zeugnis legte das im Juni vorigen Jahres stattgefundene Treffen von Vertretern beider Regierungen in Berlin ab, an dem auch der indische Premierminister Narendra Modi teilnahm. In einem umfangreichen Abschlussdokument wird die breit gefächerte Zusammenarbeit auf vielen Gebieten benannt, neue Felder sollen erschlossen werden. Gemessen am Potential beider Staaten ist die inhaltliche Ausgestaltung jedoch verbesserungsbedürftig. Das wird deutlich in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, wo beispielsweise seit 15 Jahren (im Rahmen der EU) über ein Freihandelsabkommen verhandelt wird. Doch auch auf politischem Gebiet glänzt trotz „strategischer Partnerschaft“ nicht alles. Hinter einer wohlwollenden rhetorischen Fassade verbergen sich oft tiefe Meinungsverschiedenheiten. Sie sind letztendlich der Tatsache geschuldet, dass Deutschland ein wirtschaftlich entwickelter, Besitzstand wahrender Staat, Indien hingegen ein dynamisches, nach vorn strebendes Schwellenland ist. Deutschland ist darüber hinaus mit NATO und EU an Bündnisse gekoppelt.
Doch die dramatischen Veränderungen in den internationalen Bedingungen stellen beide Staaten vor neue und ernste Probleme. Und so ist der Kurzbesuch der deutschen Außenministerin auch Ausdruck dafür, dass Indien in der deutschen Außenpolitik eine größere Rolle spielen soll. Zumal dieses Land den Vorsitz der G20-Gruppierung übernommen hat und zusammen mit dem Vorsitz der Schanghai-Gruppierung 2023 eine der Drehscheiben der internationalen Diplomatie darstellt.
Um jedoch das Ziel einer engeren Zusammenarbeit zu erreichen, bedarf es mehr als schöner Worte, es erfordert vor allem ein Eingehen auf den Partner und ein Verständnis seiner Probleme. Eine Lehrstunde in diesem Zusammenhang musste Frau Baerbock nur wenige Wochen vor ihrem Indien-Besuch erfahren. Ohne indische Interessen zu berücksichtigen, unterstützte sie beim Besuch des pakistanischen Außenministers in Berlin öffentlich dessen Positionen im Kaschmir-Konflikt, was prompt heftige indische Stellungnahmen nach sich zog. Der deutsche Botschafter in Neu Delhi musste Schadensbegrenzung betreiben, Frau Baerbock öffentlich ihre Haltung korrigieren. Das dürfte nun wieder Pakistan verärgert haben – zeigt aber insgesamt, wie sensibel und verantwortungsvoll internationale Probleme zu behandeln sind.
Die deutsche Außenministerin unterzeichnete mit ihrem Partner ein „Mobilitätsabkommen“, das vor allem die Migration indischer Arbeitskräfte nach Deutschland regeln soll, insgesamt aber den gesamten Umfang der humanitären Bewegungen zwischen beiden Staaten betrifft. Ob damit endgültig bürokratische Hürden im deutschen Konsularwesen beseitigt werden, ist ungewiss. Der Rückstau unbearbeiteter Fälle bei den deutschen Konsulaten in Indien soll sich in einer fünfstelligen Größenordnung bewegt haben, teilweise gab es bis zu einem halben Jahr Wartezeit – nur um einen Termin bei einem deutschen Konsulat zu erhalten.
Die deutsche Außenministerin dürfte bei den Gesprächen mit ihrem Partner erfahren haben, wie global die indische Außenpolitik aufgestellt ist. Europa hat hier in den letzten Jahren einen Bedeutungsverlust erfahren. Vorrang haben neben den USA und Russland die Regionen des Indo-Pazifik, des Nahen Ostens (besonders die Golfstaaten und Israel) sowie neuerdings die mittelasiatischen Staaten.
Die Repräsentanten Indiens sind sich der wachsenden Stärke ihres Landes und dessen geostrategischer Bedeutung wohl bewusst. Ihr Auftreten zeichnet sich durch ein starkes Selbstbewusstsein aus. Außenminister S. Jaishankar hob kürzlich die einmalige geostrategische Lage seines Landes mit der großen Landmasse von Nord nach Süd und das weite Hinausragen in den Indischen Ozean hervor, von der er die geopolitische Bedeutung Indiens ableitete. „Ohne unsere aktive Teilnahme kann keine wirkliche transasiatische Verbindung starten“, so der Minister.
Bereits in den ersten Wochen der G20-Präsidentschaft ist unverkennbar, dass Indien bestrebt ist, sich zu einem Sprecher des „Globalen Südens“zu profilieren. Dazu wurde am 12. Januar eine virtuelle Konferenz durchgeführt, an der sich Vertreter aus 120 Staaten beteiligten. Hier beklagte Premierminister Modi ein „achtzig Jahre altes Modell der weltweiten Führung“, das den Süden weitgehend ausschließt. Er forderte, dass die „heraufziehende Ordnung“ von der Gruppe des Globalen Südens geprägt werden sollte. Modi erinnerte an die Folgen der Corona-Pandemie, des Klimawandels, des Terrorismus und des Ukraine-Konflikts und kritisierte, dass bei der Suche nach Lösungen „weder unsere Rolle, noch unsere Stimme“ berücksichtigt würden. Deshalb sollten sich die Länder des Globalen Südens zusammen tun und die ungleichen Strukturen der „weltumspannenden politischen und finanziellen Führung ändern“, so Modi.
Es ist damit zu rechnen, dass die indische Regierung den eingeschlagenen Kurs nach größerer Weltgeltung beibehalten wird, zumal auch die wirtschaftliche Kraft des Landes wächst. Gemessen am Bruttosozialprodukt hat Indien im letzten Jahr Frankreich und Großbritannien überholt, nach Meinung vieler Experten wird es zu Beginn des neuen Jahrzehnts Deutschland und Japan eingeholt haben.
Die indische Regierung gehört zu jenen, die eine Verurteilung der Aggression Russlands gegen die Ukraine vermeiden. Hingegen wird auf größere Zusammenhänge in Bezug auf den Ukraine-Krieg verwiesen. Unverkennbar ist die Sorge, dass durch den Konflikt die Weltsicherheitsarchitektur und der Welthandel dauerhaft geschädigt werden, ja, dass der Krieg in eine atomare Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland hinüber gleiten könnte. Die viel zitierte Aussage von Premier Modi gegenüber Präsident Putin „Das ist nicht die Zeit für Kriege“ wird in Indien vor allem als Aufruf für einen Waffenstillstand und Verhandlungen gedeutet. In einem Telefonat mit Präsident Selenskyj hatte Premierminister Modi am 4. Oktober festgestellt: „Es gibt keine militärische Lösung“ und Indiens Unterstützung für alle Bemühungen um Frieden angeboten. In einem weiteren Telefonat am 27. Dezember betonte er, dass beide Seiten zu Dialog und Diplomatie zurückkehren sollten, um eine dauerhafte Lösung zu finden. Er rief zu einer sofortigen Beendigung aller Feindseligkeiten auf.
Das sind Haltungen, die sich von der deutschen Außenpolitik deutlich unterscheiden. Die wiederholten Forderungen von Frau Baerbock nach Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine sowie die Vorhersage ihres Parteifreundes Habeck, dass die Ukraine militärisch siegen wird, machen die Differenzen zur indischen Haltung deutlich. Die zukünftige Entwicklung wird zeigen, wie viel Substanz die Worte von Frau Baerbock beinhalten, die in Neu Delhi sagte: „Wir können als Wertepartner enger zusammen wachsen und tun das bereits.“
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