26. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2023

Königsmörder, Rundköpfe und Kavaliere

von Jürgen Hauschke

Im November 2022 veröffentlichte der englische Romanautor Robert Harris seinen neuen Roman „Königsmörder“. Das geschah „just in time“ mit den Vorbereitungen auf die Inthronisierung von Charles III. Wie stets findet der Autor sein Sujet in einem faszinierenden und erzählenswerten historischen Ereignis. So sprechen viele seiner meist sehr kurzen, aus einem Wort bestehenden Romantitel für sich: Sie lauten beispielhaft: „Enigma“, „Aurora“, „Pompeji“ oder „Konklave“. Auch „Imperium“, „Titan“ und „Dictator“ in der Cicero-Trilogie.

Nun also „Königsmörder“ in der deutschen Ausgabe. Im englischen Original heißt der Roman „Act of Oblivion“. Der Buchtitel bezieht sich auf ein Gesetz von 1660, dessen Name lautet: „Ein Akt der freien und allgemeinen Begnadigung, Entschädigung und Vergessenheit“. Damit sind wir schon mitten in der Handlung. Im englischen Bürgerkrieg unterlag König Karl I. (engl. Charles Stuart) den Truppen des Parlaments und wurde auf Betreiben Oliver Cromwells 1649 nach einem Hochverratsprozess enthauptet. England wurde in eine Republik umgestaltet. Nach dem mehrjährigen Interregnum allerdings gelangte der Sohn des ehemaligen Königs als Karl II. (Charles II.) auf den wiedererstandenen Thron und ließ das genannte Gesetz verkünden. Das war bereits nach dem Tod Cromwells, der vorher als Lordprotektor von England, Schottland und Irland – mit Zügen einer Militärdiktatur – regiert hatte. Damit war die republikanische Periode der englischen Geschichte bis in die Gegenwart vorbei.

Cromwell gehörte zu den sogenannten Rundköpfen (englisch Roundheads), wie die Anhänger des Parlaments bezeichnet wurden, die sich gegen die absolutistische Machtausübung Karls I. wehrten. Die Rundköpfe hatten eine eng am Kopf anliegende Kurzhaarfrisur. Dies geschah in demonstrativem Kontrast zu den Adligen, die schulterlange Locken trugen, der damaligen höfischen Mode folgend. Die Frisur war eine bewusste Abkehr von der angeblichen Verweichlichung und Dekadenz am Hof Karls. Die Royalisten hingegen nannte man Kavaliere (englisch Cavaliers). Im Bürgerkrieg schließlich entluden sich nicht nur die Spannungen zwischen dem König und dem Unterhaus, sondern auch die Gegensätze zwischen Anglikanern (der neuen englischen Staatskirche), Katholiken und Puritanern sowie Presbyterianern (Calvinisten).

Die Handlung des Romans setzt nach der Verkündung des „Acts of Oblivion“ ein. Die „Amnestie“ galt ausdrücklich nicht für diejenigen Mitstreiter auf der Seite Cromwells, die am Todesurteil und der öffentlichen Hinrichtung Karls I. direkt beteiligt waren. Die Jagd auf diese sogenannten Königsmörder nimmt Harris als Stoff für seinen Roman. Er bezeichnet sie als größte Menschenjagd des 17. Jahrhunderts. Darüber könnte man streiten, zum Beispiel angesichts des damals gerade beendeten Dreißigjährigen Krieges oder des gleichzeitig geführten transatlantischen Sklavenhandels.

Alle wichtigen handelnden Romanfiguren sind historisch belegt, bis auf eine Ausnahme: Richard Nayler. Keine Menschenjagd ohne einen Menschenjäger, so sagt es Harris. Recht hat er und erfindet einen klugen, fanatischen Jäger. Fast alle Königsmörder sind ergriffen und werden bestialisch hingerichtet. Nur zwei der wichtigsten bleiben spurlos verschwunden. Der allwissende Erzähler im Roman stellt sie dem Leser vor: Zwei Offiziere der New Model Army Cromwells, Oberst Edward Whalley und dessen Schwiegersohn Oberst William Goffe, überqueren den Fluss Charles (sic!) bei Boston zum kleinen Dörfchen Cambridge in Neuengland; eine Brücke ist noch nicht fertiggestellt. Das größte Gebäude, das sie sehen, ist ein zweistöckiges Holzhaus: Harvard College, eine puritanisch geführte Ausbildungsstätte für Geistliche. Beide sind gerade aus England geflohen, um ihr Leben zu retten. Hier finden sie den Schutz durch fanatische Puritaner.

Harris gliedert den Roman in vier Teile: Suchen, Jagen, Verstecken, Morden. Die erzählte Handlung geht von 1660 bis 1674, wobei vor allem gegen Ende des Romans beim Schreiben der Lebenserinnerungen Whalleys die Vorgeschichte zum Bürgerkrieg und dessen Verlauf berichtet werden. Der Erzähler beschreibt die Erlebnisse der beiden ehemaligen Oberste in den Kolonien Neuenglands und ihrer in England zurückgebliebenen Familien. In jeweils alternierenden Kapiteln schildert er die verbissene Jagd des royalistischen Häschers Nayler in England, in Neuengland und in Mitteleuropa.

Dem begnadeten Fabulierer Harris gelingt es, seine Leser an die Lektüre des Buches zu fesseln. Die anschaulichen Beschreibungen des einfachen Lebens in den ersten englischen Ansiedlungen Nordamerikas sind beeindruckend. Indianer und die überwiegend puritanisch geprägten ersten Siedler lebten noch friedlich nebeneinander. Also „Heiden und Fanatiker“ aus Naylers Sicht, der die stark religiös geprägte Anschauung der Welt nicht nachvollziehen kann. Seine fanatische Hatz ist vor allem in der Suche nach Rache für den Tod seiner verstorbenen Frau begründet.

Die theokratisch geprägte und von der englischen Krone noch unabhängige Kolonie in New Haven, von Reverend John Davenport gegründet und nach den Prinzipien der Heiligen Schrift geführt, ist einer der vielen Zufluchtsorte der gejagten Königsmörder. Fast beiläufig, aber immer sehr interessant erzählt, erfährt der Leser viele neue Details aus der frühen Besiedlung in Neuengland. So liest er auch, wie aus Neu-Amsterdam am Hudson River Neu-York wurde, benannt zu Ehren des jüngeren Bruders von Karl II., dem Herzog von York. Auch hier hatte Nayler – nach Harris – seine intriganten Finger im Spiel. Das geschah, nachdem der niederländische Gouverneur Peter Stuyvesant kampflos die Stadt an englische Expeditionssoldaten übergab.

Ein besonderes Jahr wurde 1666 wegen der symbolischen Jahreszahl. Nachdem sie drei Jahre in einem Kellerversteck überdauert hatten, hofften auch die beiden Oberste wie viele der fanatischen Puritaner auf Erlösung. In der Offenbarung des Johannes stehe geschrieben, dass als Vorboten des Jüngsten Gerichts vier Reiter kommen werden – der Tod, der Krieg, die Hungersnot und der Antichrist. Der Pestausbruch in London, der englisch-holländische Krieg, die Hungersnot und der Große Brand von London werden als Vorzeichen für das Armageddon gedeutet. Doch das erwartete Jüngste Gericht kommt nicht.

Wieder vergehen Jahre des Versteckens. Nayler ist längst nicht mehr Leiter des Ausschusses zur Ergreifung der Königsmörder. Die Zeiten sind andere geworden und öffentliche Hinrichtungen von der Krone nicht mehr gewünscht. Irgendwann spinnt Nayler eine neue Intrige, um die Gesuchten zu finden. Das Ende für Whalley, Goffe und Nayler wird hier nicht verraten; aber sicher ist, dass der Roman bis zum Schluss spannend bleibt. Von Robert Harris war auch nichts anderes zu erwarten.

Dem Autor gelingt es erneut, so szenisch zu erzählen, dass der Film zum Buch bereits im Kopf des Lesers läuft. „Der Ghostwriter“ und „Intrige“ (J’accuse) sind bereits Romanverfilmungen, unter der Regie von Roman Polanski, nach von Harris selbst geschrieben Drehbüchern. Sie wurden mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Die jüngste Verfilmung nach einem Roman von Harris ist „München – Im Angesicht des Krieges“.

Robert Harris: Königsmörder. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller, Heyne Verlag München 2022, 544 Seiten, 24,00 Euro